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Der große Tabubruch

Verfasst von: Schwarzer, Alice info
in: EMMA
2002 , Heft: 3 , 86-90 S.

Weitere Informationen

Einrichtung: FrauenMediaTurm | Köln
Signatur: Z-Ü107:2002-3-a
Formatangabe: Bericht
Link: Volltext
Verfasst von: Schwarzer, Alice info
In: EMMA
Jahr: 2002
Heft: 3
Beschreibung: Ill.
ISSN: 0721-9741
List of content:
  • SPD (Sozialdemokratische Partei Deutschlands); FDP (Freie Demokratische Partei);
  • Sprache: Nicht einzuordnen
    Beschreibung:
    Der große Tabubruch
    EMMA 3/2002, S. 86

    Als die Feministinnen anfingen, es öffentlich zu sagen, wurden sie ausgelacht, Gewalt in der Familie? Vergewaltigung im Ehebett? Vom eigenen Mann und Vater gefolterte Frauen und Kinder? Lächerlich. So etwas gibt es gar nicht. Und schon gar nicht mitten in Deutschland. Das war Mitte der Siebziger. Ein Vierteljahrhundert später wissen wir, dass die Männergewalt epidemische Ausmaße hat - und keiner kann es mehr leugnen. Und meist sind Frauen und ihre Kinder gleichzeitig Opfer. Heute müssen wir davon ausgehen, das jede zweite Frau ganz persönliche Gewalterfahrungen gemacht hat, meist im sogenannten "Nahbereich". Der Täter ist kein Fremder, sondern der (eigentlich) geliebte Mann. 1976 öffnete in Berlin das erste Frauenhaus seine Pforten - und Alice Schwarzer schrieb damals eine Reportage darüber, die im März 1977 in EMMA erschien. Heute gibt es 452 solcher Häuser, und sie sind immer überfüllt. 115 davon stehen in Ostdeutschland, in der die Gewalt in der Familie bis zur Wende ein Tabu war. Rund jedes dritte Frauenhaus ist noch in feministischer Hand, den Rest verwalten Wohlfahrtsverbände. Die Feministinnen haben inzwischen weitergedacht und -gehandelt. Sie sehen nicht ein, warum die Opfer die Wohnung lassen müssen und die Täter bleiben können. Resultat: das "Wegweisungsgesetz", das nach Österreich Anfang des Jahres auch in Deutschland eingeführt wurde (Seite 91). Seither müssen die Schläger gehen und können die Opfer bleiben. Der dritte Schritt steht noch aus: Die Trennung von Liebe und Gewalt.

    Morgen. "Moment, wir müssen erst mal ein bisschen aufräumen..." Mit geübtem Hausfrauengriff werden leer getrunkene Kaffeetassen gestapelt, Teddys und Spielzeugautos gerafft. Acht Uhr morgens im Zimmer 14 im Haus für geschlagene Frauen: sechs Frauen, neun Kinder, sechs Doppelbetten, drei Kinderliegen, zwei Tische und acht Stühle. Mit mir um den Tisch sitzen alle sechs Frauen. Einige von ihnen sind schon seit Wochen hier, andere erst seit Tagen. Die letzte, Gertraut Bongartz (alle Namen geändert), 22, ist erst gestern mit ihrem Kind dazugekommen.

    "Die Telefonnummer von hier hab ich von der Auskunft. Ich frag mich nur, was die Frauen vorher gemacht haben, als es das Haus noch nicht gab." - "Ich bin hundertmal wieder zurückgegangen, weil ich nicht wusste, wohin." - "Ich hab immer nur davor gezittert, dass er nach Hause kommt." - "Guck mal meine Narben an... Dreimal hat er mich krankenhausreif geschlagen." - "Die Nachbarn? Ach die. Die machen doch nur Tür und Fenster zu. Die wollen mit so was nichts zu tun haben." - "Und immer hast du die Hoffnung, er ändert sich..."

    Rechts von mir Gudrun Held, 36 Jahre, Mutter von vier! Kindern und Hausfrau. Nebenher ging sie putzen. "Ich musste: Er feierte ja laufend krank." Am liebsten schlug er sie mit der Hundeleine. Wollte sie nicht mit ihm schlafen, hielt er ihr eine Pistole auf die Brust. Nach der Scheidung hat sie ihn wieder geheiratet - er hatte versprochen, sich zu bessern.

    Als sie wieder gehen wollte, bekam sie zu hören: "Hau ruhig ab. Kriegst doch keinen mehr mit." Zwei ihrer Kinder sind verhaltensgestört. Der achtjährige Sohn Stefan hat neulich gesagt: "Wenn ich könnte, würde ich Vater umbringen." - Frau Hera hat ein zweites Mal die Scheidung eingereicht.

    Gegenüber Ilona Klein, 27 Jahre alt, drei Kinder. Ihr Mann setzte sie nach der Prügel meist vor die Tür. Auch nachts irrte sie tage- und nächtelang durch die Straßen. Einmal hat er das Kind aus dem Fenster gehalten und gedroht: "Ich schmeiß den Balg raus." Kommentar der alarmierten Polizei: "Was wollen Sie denn. Das Kind lebt doch noch." Den Tipp mit dem Frauenhaus hat sie von einer Sozialarbeiterin. - Frau Klein hat die Scheidung eingereicht. Daneben Renate Herzberger, 48 Jahre alt, seit zehn Jahren verheiratet, kein Kind, von Beruf Kassiererin. Auch sie wurde oft ausgesperrt. In der fremden Stadt - sie war wegen ihm nach Berlin gezogen - wusste sie nicht wohin. Kam sie dann zurück, wurde sie wieder zusammengeschlagen. Ihr Körper und ihr Gericht sind mit Narben bedeckt. Zuletzt hatte sie einen Schädelbruch. Ein um Rat gefragter Anwalt antwortete: "Solange sie nicht den Kopf unter dem Arm tragen, ist sowieso nichts zu machen. Außerdem ist Alkoholismus eine Krankheit, und ihr Mann kriegt bestimmt verminderte Zurechnungsfähigkeit." - Sie hat die Scheidung nicht eingereicht. Warum nicht? "Angst. Der würde mich totschlagen."

    Und Regine Weiss, 27 Jahre alt, von Beruf kaufmännische Angestellte, Mutter eines Kindes und seither Hausfrau. Sie ist seit drei Tagen hier. Gestern hat sie zusammen mit zwei anderen Frauen ihr Kind aus der Wohnung geholt.

    Am mutigsten war bei dieser Aktion Kate. Kate Mielke, 22, Mutter eines Kindes, früher Arzthelferin, heute Animiermädchen. "Meinen Namen brauchst du nicht zu ändern", sagt sie entschlossen. "Ich stehe zu allem, was ich zu sagen habe." Wenn Kates Mann betrunken war, pflegte er sie in den Bauch zu treten, die Treppe herunter zu schmeißen, zu würgen und mit einer Pistole zu bedrohen. Seit ihrer Eierstockoperation nennt er sie "taube NUSS". Oder er tönt: "Du bist ja nicht mal ne richtige Frau. Du kriegst ja keinen Orgasmus."

    Kate fiel in Depressionen und landete in der Psychiatrie. Das war am 5. Dezember vergangenen Jahres. Am 20. Dezember wurde sie wieder entlassen - und ging direkt ins Frauenhaus. "Jetzt versucht er mit allen Mitteln, mich zurückzuholen. So reagieren fast alle Männer der Frauen hier im Haus. Er schreibt mir Liebesbriefe, bombardiert mich mit Anrufen. Neulich stand er sogar vor der Tür und ließ mir ausrichten: ,Komm zurück, Schatz, ich schlag dich nicht mehr'.
    Renate fängt an zu kichern: "Stellt euch das mal umgekehrt vor: Kates Mann
    wäre im Männerhaus und sie steht vor der Tür und säuselt: 'Kannst runterkommen, Schatz, ich schlag dich nicht mehr..."' Am 1. November 1976 wurde das Berliner Haus für geschlagene Frauen offiziell eröffnet. Es war das erste in Deutschland. Und schon jetzt gibt es 2 weitere: in Köln und Bremen. Und
    in zahlreichen Städten Fraueninitiativen für weitere Häuser.

    Schon Wochen vor der Eröffnung des Berliner Hauses kamen die ersten Frauen.
    Sie campten inmitten des Renovierungsgerümpels.

    Bis Ende Januar wurden 193 Frauen und etwa 300 Kinder aufgenommen. An dem Tag, an dem ich im Haus bin, leben 48 Frauen mit ihren Kindern in den 15 Räumen. Längst ist auch der ursprünglich als zweites Büro vorgesehene Raum mit Betten voll gestellt. Ilona Böttcher, die für das Büro verantwortlich ist, musste rücken. Zwischendurch kampierten sogar Frauen im Gemeinschaftsraum.

    Das Haus hat das Prinzip der "offenen Tür". Keine Frau wird zurückgeschickt. "Das können wir nicht verantworten", erklärt Barbara, eine der Mitarbeiterinnen. "Wer weiß, ob die Frau am nächsten Tag noch lebt?" Bisher ging etwa jede vierte zu ihrem Mann zurück (einige sind schon zum zweiten Mal im Frauenhaus). Die anderen haben sich Wohnungen gesucht oder übergangsweise Unterschlupf bei Verwandten und Bekannten gefunden.

    Eine Woche nach Eröffnung, am 7. November, missbrauchte eine "Bild"-Reporterin das Prinzip der offenen Tür und schlich sich als angeblich Hilfe suchende Frau ins Haus. Resultat: Am 8. November erschien ein Artikel in "Bild" mit der Überschrift: "Frauenhaus: Ich war froh, als ich wieder draußen war". Gesehen hatte die Dame von "Bild": "Frauen und Kinder, die nicht lachen können. Eine riesige Küche und - Frauen. Die einen starren vor sich hin, im Mundwinkel eine Zigarette. Vor sich auf dem Tisch eine Kaffeetasse. Die anderen prügeln sich mit Worten. Das ganze Haus ist verdreckt.

    Die Frauen waren empört. Aber richtig ist: Nicht wenige der geschlagenen Frauen schlucken Tabletten oder Alkohol. Polizei, Richter und Jugendamt gegenüber versuchen die Männer das zum Nachteil der Frauen auszuspielen. Sie vergessen nur eines: dass die Sucht in den seltensten Fällen der Anlass der Gewalt war, sondern die Folge. Geschlagen wird - das bestätigen alle zuständigen Stellen und auch die wenigen bisher existierenden Untersuchungen - in allen sozialen Schichten. Nur scheinen Arbeiter offener, lauter zu schlagen. Angestellte und Akademiker prügeln kaschiert und greifen neben der physischen auch zur psychischen Tortur: Da ist es gang und gäbe, dass Frauen mit der Einweisung in die Psychiatrie gedroht wird.

    Eine englische Untersuchung ergab, dass zwei Berufsstände besonders viel prügeln: Polizisten und Richter. Und genau die haben dann auch beruflich mit den geschlagenen Frauen zu tun. Schätzungen über die Zahl der geschlagenen Frauen schwanken in der Bundesrepublik zwischen 100.000 und vier Millionen. Untersuchungen und Statistiken existieren nicht. Was kein Zufall ist, sondern die Ignoranz und Verschleierung des Problems ausdrückt. Eine geschlagene Frau - das galt bisher als Ausnahme. Und außerdem ist sie selber schuld oder mag das vielleicht sogar gern?

    Doch langsam wird klar: Wir sind alle geschlagene Frauen. Auf der Straße beschleunigen wir den Schritt, sobald abends jemand hinter uns geht. Pöbelt uns ein Besoffener an, erwidern wir nichts, weil wir Angst haben, den Kürzeren zu ziehen. Und zu Hause? Selbst der sanfteste Mann könnte uns immerhin schlagen. Und aus Erfahrung wissen wir Frauen, dass auch die friedlichsten Männer gewalttätig werden, wenn Frauen gehen - und Frauen gehen zunehmend.

    Auch ohne Erfahrungen mit Trinkern und Schlägern haben viele Frauen solche Gewalttätigkeiten in Momenten der Trennung über sich ergehen lassen müssen, Die Männer sind fast immer die Stärkeren. Und es ist eine Frage der Gnade, ob sie diese körperlicheÜberlegenheit ausspielen oder nicht.

    Doch wenn es heute endlich für die dringendsten Fälle Zufluchten gibt, dann ist das nicht etwa den Männern, den Polizisten, Ärzten und Ämtern zu verdanken, sondern ausschließlich den Frauen, präziser: den Feministinnen. Dieses erste Haus für geschlagene Frauen wurde wie auch die weiteren, von Frauen aus dem Frauenbewegung initiiert.

    In Berlin waren es zunächst acht Feministinnen, die sich seit dem Winter 75 regelmäßig trafen: Sozialarbeiterinnen, Psychologinnen, Ärztinnen und Anwältinnen. Alles Frauen, die dank ihrer täglichen Erfahrung wussten: Es muss etwas geschehen! Sie diskutierten, sammelten Informationen, wurden bei Ämtern und Ministerien vorstellig, Ex-Ministerin Focke, im Frühling durch einen eindringlichen Brief um Hilfe und Geld gebeten, hielt es damals noch nicht einmal für nötig, zu antworten. Auch dem SPD-regierten Berliner Senat leuchtete die Notwendigkeit solcher Häuser zunächst keineswegs ein.

    Doch die Frauen ließen sich nicht entmutigen. Sie veröffentlichten Broschüren und verteilten Flugblätter über das Elend der geschlagenen Frauen. Und sie klagten die Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen an, die es möglich machen, dass Gewalt gegen Frauen für selbstverständlich gehalten wird: von den schlagenden Männern und allzu oft sogar von den geschlagenen Frauen selbst.

    Die ersten Reaktionen waren heftig. Prompt horchten die Medien auf. Im Mai '76 erklärte Ministerin Focke im Fernsehen ihr Desinteresse an dem Projekt. Sollten die Frauen sich doch wehren. Folge: "Waschkörbe von Protestbriefen" (so eine Focke-Referentin).

    Nun war der Skandal nicht länger zu verschweigen. Ausgerechnet in der Vor- wahlzeit. Pech für die Politiker, Glück für die Frauen. Denn SPD und FDP, die in der vergangenen Legislaturperiode dank der "progressiven Wählerinnen" an die Macht gekommen waren, sie aber dann bitter enttäuscht hatten, fürchteten, die Wahlen zu verlieren. So kam es, dass ganz plötzlich das Geld floss. Im August 1976 erteilte das Bonner Ministerium der Berliner Gruppe "Frauenhaus - Frauen helfen Frauen" eine mündliche Zusage: das Projekt sollte ab Herbst mit 450.000 Mark jährlich als "Modellversuch" finanziert werden, nach drei Jahren sollte der Senat die Kosten übernehmen. Nun begann ein zähes Hickhack. Die Geldgeber wollten den Wählerinnen gefallen, den Frauen aber gleichzeitig nicht zu viel Macht geben: Im Haus sollte alles so laufen, wie sie es für richtig hielten. Schon gingen Politiker und Politikerinnen mit dem Projekt hausieren, noch bevor das Haus eröffnet wurde. Mal verkündete die SPD, mal die FDP, dies sei ja eigentlich ihr Projekt.

    Die Frauen, inzwischen gewitzt im Behörden- und Parteiendschungel, ließen sich nicht abdrängen. Einzige Konzession: Sie gründeten einen "Trägerverein", der juristisch und formal für das Projekt verantwortlich ist und in dem außer ihnen selbst sechs so genannte "öffentliche Frauen" sind - das heißt,
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