Artikel

Simone de Beauvoir : ich fühle - also bin ich

Verfasst von: Fullbrook, Kate [weitere]
in: EMMA
1995 , Heft: 5 , 92-95 S.

Weitere Informationen

Einrichtung: FrauenMediaTurm | Köln
Signatur: Z-Ü107:1995-5-a
Formatangabe: Buchauszug
Link: Volltext
Verfasst von: Fullbrook, Kate; Fullbrook, Edward
In: EMMA
Jahr: 1995
Heft: 5
Beschreibung: Ill.
ISSN: 0721-9741
Sprache: Nicht einzuordnen
Beschreibung:
Wer dachte und schrieb wann was? Wahrhaft detektivisch kreisen die Fullbrooks in ihrem Buch (nachfolgend Auszüge) die Tage des Entstehens des französischen Existentialismus ein. Sie beweisen: Beauvoir entwarf das philosophische Konzept in ihrem Roman, Sartre übertrug den Gedanken erst danach in die Theorie.

Ab 1934 beschäftigt sich Beauvoir immer intensiver mit Philosophie, während Sartre sich von der Philosophie ab und der Psychologie zuwendet. Diese Abwendung mag auf Beauvoirs Einfluß zurückgehen. In getrennten Interviews, die beide im hohen Alter gaben, erklärten sie unabhängig voneinander, daß Beauvoir, je näher sie Sartre kennenlernte, immer enttäuschter ob seines mangelnden philosophischen Talents wurde, bis sie ihm schließlich wiederholt riet, jeden Gedanken an das Verfassen philosophischer Werke aufzugeben. "Ich sagte ihm," erinnert sich Beauvoir 1973 in einem Interview mit Alice Schwarzer: "Ich glaube, Sie sollten sich lieber der Literatur zuwenden." Sartre erinnert sich noch drastischer an ihre Worte: "Es gab eine lange Zeit, in der Simone de Beauvoir mir riet, nicht zu viel Zeit auf die Philosophie zu verschwenden: 'Wenn Sie kein Talent dazu haben, vergeuden Sie keine Zeit damit!'" Sicherlich hatte sie dabei nicht nur seine Zeit, sondern auch ihre eigene im Auge. Es war ihr klargeworden, daß jedes philosophische Projekt Sartres umfangreiche Beratung erfordern würde.
Daß "Sie kam und blieb" bisher nicht als philosophischer Text erkannt wurde, hängt nicht nur damit zusammen, daß er von einer Frau geschrieben wurde. Erstens ist - anders als bei Sartre - der philosophische Gehalt so tief mit der Erzählstruktur verbunden und mit solcher Eleganz gehandhabt, daß seine Existenz leicht unbemerkt bleibt. Zweitens bietet der Roman drei weitere Interpretationsweisen, die bereits gewürdigt wurden: Zuerst wurde der Roman als eine soziologische Studie der Pariser Bohème verstanden; später, als Sartre und Beauvoir berühmt wurden, bestand die Sensation darin, daß die Hauptfiguren des Romans dem berühmten Paar und seinem Freundeskreis nachgebildet sind und das Buch wurde als Beziehungsroman verstanden; und heute, seit dem Aufkommen des Feminismus, wird der Roman als vergleichende Studie des Verhaltens dreier emanzipierter Frauen verstanden, die auf verschiedene Weise ihr Leben in einer männerdominierten Welt bewältigen. Hat man jedoch die Grundstruktur des Romans einmal verstanden, springen einen bei der Lektüre fast auf jeder Seite philosophische Überlegungen an.
Das Werk formuliert ein philosophisches System, das sich in seiner Grundstruktur fast überhaupt nicht von dem in Sartres "Das Sein und das Nichts" beschriebenen System unterscheidet. Durch die geschickte Handhabung sokratischer Dialoge, Symbolen, Handlung und Erzählung in der dritten Person, um Sein und Bewußtsein der Charaktere zu diskutieren, hatte Beauvoir bis zum Frühjahr 1940 bereits eine volle Ausführung des "Sartreschen" Existentialismus geleistet.

In den ersten acht Seiten von "Sie kam und blieb" leitet Beauvoir nicht nur die Handlung ein und stellt die beiden wichtigsten Charaktere dar, sondern liefert bereits das komplette philosophische Grundgerüst des Existentialismus, das Sartre anschließend in "Das Sein und das Nichts" umfangreich ausformuliert. Beauvoirs Präsentation gebührt auch darum besondere Aufmerksamkeit, weil sie so elegant, so überzeugend und knapp auf den Punkt gebracht ist. Eine leichter lesbare Darstellung der schwierigen Ideen, die in Sartres längerer und berühmterer Formulierung dieser Philosophie enthalten sind, ist kaum vorstellbar.
Der Roman beginnt mit einer Beschreibung von Francoises Bewußtsein ihrer Umgebung während sie - und dies hat symbolische Bedeutung - nachts in einem menschenleeren Theater eine Fassung des Dramas "Julius Cäsar" überarbeitet, zusammen mit dem Bost-ähnlichen Regieassistenten Gerbert. Beauvoirs Definition dessen, was Sartre später das Für-sich-sein nennt, in nur sechs (!) Worten ("Ich bin da, mein Herz schlägt") ist eine kondensierte Revision klassischer und moderner philosophischer Positionen.

Sechs Punkte müssen angemerkt werden. Erstens: Indem sie mit dem Bewußtsein beginnt, baut Beauvoir ihren Roman auf ein philosophisches System auf, das sich von Heideggers Existentialismus grundlegend unterscheidet. Heidegger beginnt mit dem Sein. Zweitens: Das Bewußtsein ist auf etwas außerhalb von sich gerichtet - auf das Klicken der Schreibmaschine, den Lichtkegel der Lampe - und ist eben dadurch per Definition mit der Welt verbunden. Drittens: Das dargestellte Bewußtsein ist vorreflektiv, existiert also vor der Erkenntnis und bricht daher mit der Cartesianischen Tradition ("Ich denke, also bin ich"), die mit der Reflektion des Bewußtseins seiner Selbst beginnt. Viertens: Das Wort "da" setzt das bewußte Individuum in die Welt. Sechstens identifiziert der Zusatz "mein Herz schlägt" das Bewußtsein als eine psychosomatische Einheit und eröffnet dadurch ein neues Kapitel der Philosophie.

Seit Jahrhunderten, aber besonders im 18. und 19. Jahrhundert, haben sich die "großen" Philosophen bemüht, die Kluft zwischen Erscheinung und Wirklichkeit zu überbrücken, doch niemandem war es gelungen, eine plausible und konsistente Argumentation zu entwickeln. Die Theorie der Erscheinungen, wie sie zum allerersten mal in "Sie kam und blieb" entwickelt wurde, ist eine fundamentale philosophische Innovation, und Sartre tat gut daran, seine Wiederholung von Beauvoirs Argumentation an den Anfang seines magnum opus zu stellen. Dadurch bekundete er allen Experten, daß sich hier jemand mit einem besonderen Talent für Philosophie zu Wort meldet und das folgende Werk mit großer Aufmerksamkeit zu studieren sei. Sartre betrat die Bühne der Philosophiegeschichte im Scheinwerfer dieser Idee. Er warf damit alles über den Haufen, was er selbst vorher bereits philosophisch veröffentlicht hatte.

Sartres langatmige Einleitung zu "Das Sein und das Nichts" ist nichts anderes als eine Wiedergabe von Beauvoirs Argumentation aus der Einleitung aus ihrem Roman. In seinem vorigen Werk, "Die Transzendenz des Ich" hatte er noch die Position vertreten, daß Dinge unabhängig vom Bewußtsein existieren. Doch wie Beauvoir war er auf der Suche nach einer philosophischen Methode, die, ohne auf das Übernatürliche zurückzugreifen, vom individuellen Bewußtsein ausginge. Dadurch stand er vor einem riesigen Problem: Das Bewußtsein enthüllt nur die Erscheinung der Dinge und kann daher nicht zeigen, daß Dinge auch existieren, wenn kein Bewußtsein auf sie gerichtet ist. Das war damals der akzeptierte Stand der Dinge. Sartre träumte davon, eine Lösung für dieses Problem zu finden, und sein Roman "Der Ekel" war der Versuch, dies zu leisten. Doch genau dies ist ihm darin nicht gelungen. Er schuf ein literarisches Meisterwerk auf der Grundlage einer machtvollen Intuition der Wirklichkeit der Dinge, doch der Beweis ihrer Existenz fehlt. Die Theorie der Erscheinungen (Phänomenologie), die Beauvoir durch Francoises nächtlichen Gang durch das Theater liefert, machte Sartres wildeste Träume wahr.

Auch hatte Sartre bis zu "Das Sein und das Nichts" in seinen Werken noch nichts von der Theorie des Anderen gewußt, die Beauvoir in großer Ausführlichkeit in "Sie kam und blieb" darlegt. Es ist diese Erfahrung seiner Selbst als Objekt eines Anderen, die Beauvoir als den Beweis für die Existenz des anderen Bewußtseins bietet. Auf den folgenden Seiten des Romans analysiert sie ausführlich diese Subjekt-Objekt-Beziehung zwischen Menschen. Mit der Postulierung des Anderen und dessen Fähigkeit, das Bewußtsein eines Gegenübers zu transformieren, vervollständigt Beauvoir im ersten Kapitel von "Sie kam und blieb" ihren Entwurf des Fundaments nicht nur ihres eigenen Systems, sondern auch das von Sartres "Das Sein und das Nichts". Damit ist bewiesen, daß Beauvoir 1938 nicht nur dieses philosophische System erarbeitet hatte, sondern dessen Eckpfeiler bereits gewandt und flüssig in ein bedeutendes erzählerisches Werk zu integrieren wußte.

Ihre Theorie des Anderen spielt eine besonders große Rolle in der Erzählstruktur des Romans. Szene nach Szene analysiert sie mittels der Interaktion der Figuren ihr Konzept des Blicks, dem folgende Idee zugrundeliegt: Wenn ich bemerke oder mir einbilde, daß jemand mich anblickt, erfahre ich mich als das Objekt des Anderen und damit den Anderen als ein existierendes Bewußtsein. "Sie kam und blieb" informiert die Leserin und den Leser ständig darüber, wer wen anblickt.

Durch die Interaktion der Figuren erforscht Beauvoir sieben Arten der Objekt-Subjekt-Beziehung: Gleichgültigkeit, Sprache, Liebe, Masochismus, Sadismus, Begehren und Haß. In "Das Sein und das Nichts" bietet Sartre eine Zusammenfassung genau dieser sieben Arten von Beziehungen im Kapitel "Konkrete Beziehungen". Beauvoir interessiert sich in ihrem Roman auch dafür, was in diesen Zweierbeziehungen passiert, wenn eine dritte Person (bei Sartre später "der Dritte" genannt) sich einmischt: Eineüberlappende Serie solcher Dreiecksbeziehungen bietet eine weitere Strukturebene ihres Romans. Als Sartre in seinem Werk Beauvoirs Analyse übernahm, tat er das mit einem einzigen Unterschied: Er analysierte abstrakt statt konkret, führte ein umfangreiches Begriffssystem ein und schwelgte regelrecht in rhetorischen Ausschweifungen. Noch am 9. Januar 1940 schrieb er an Beauvoir, wie enttäuscht er von seinen bisherigen Leistungen sei: "Ich habe meine fünf Notizbücher nochmal durchgelesen und sie befriedigen mich längst nicht so, wie ich erwartet hätte. Ich finde sie zu vage, und selbst die klarsten Ideen sind nicht viel mehr als wiedergekäute Passagen von Heidegger. Alles, was mir seit September gelungen ist, ist eine ausführliche Wiedergabe der zehn Seiten, die dieser dem Problem der Geschichtlichkeit widmete."

Sartres Schicksal wendete sich dramatisch am Morgen des 5. Februar 1940 in einer Pariser Brasserie auf der Avenue du Maine. Dort entdeckte er die Keimzelle der Philosophie, für die er weltberühmt werden würde: Er begann mit der Lektüre von Beauvoirs Romanmanuskript.

Beauvoirs Definition der philosophischen Kategorie Zeit in ihrem Roman ist besonders aufschlußreich. Sie läßt Pierre, die nach Sartre modellierte Romanfigur, die Grundelemente dieser Definition entwickeln. Hier definiert Beauvoir (aus dem Munde Pierres) die Zeit nicht als physikalische Kategorie, sondern als Erfahrung. Offenbar konnte der reale Sartre der fiktiven Zuschreibung dieser Definition an den Roman-Sartre, Pierre, nicht widerstehen. Am 18. Februar 1940 verkündet er in seinem Tagebuch: "Sehet, ich erblicke nun eine Theorie der Zeit! Ich fühle mich verlegen wie ein kleines Kind, während ich beginne, sie zu erläutern."

Während Beauvoir in Paris nach Beendigung ihres Romans ihre Liebesbeziehung zu Bost wieder aufnimmt, ist Sartre auf seinem Armeeposten und versucht, sich in seinem Tagebuch an Beauvoirs Manuskript zu erinnern. Sein erster Versuch, Beauvoirs Zeit-Theorie zu rekonstruieren, schlägt fehl. Er beginnt mit großer Geste und endet in unverständlichem Kauderwelsch: "Zeit ist die intransparente Grenze von Bewußtsein. Sie ist außerdem eine nicht zu erkennende Intransparenz in einer totalen Transparenz". Tags darauf gelingt ihm eine abstrakte Zusammenfassung von Pierres Erläuterung der Zeit im Gespräch mit der Romanfigur Xaviere.

Am 27. Februar versucht er, Beauvoirs Konzept des Blicks und des Dritten zu rekapitulieren. Beides mißlingt ihm. Anschließend versucht er, die Arten konkreter Beziehungen aufzuzählen, kommt aber nur auf zwei (Liebe und Sadismus). Offensichtlich würde er "Sie kam und blieb" noch öfter studieren und sich bei Beauvoir Nachhilfe holen müssen, bevor er in der Lage sein würde, "Das Sein und das Nichts" zu entwerfen. Zwei Dinge machen vielleicht verständlich, warum Sartre keine Lust hatte, in seinen Tagebüchern zuzugeben, woher er plötzlich alle diese Ideen hatte: Am 20. Februar erhielt er Beauvoirs Brief vom 18. Februar, in dem sie ihm offiziell mitteilte, ihre Beziehung zu Bost würde ab nun eine "Wesentliche" sein: "Bost bildet auf absolut gewisse - ja essentielle - Weise einen Teil meiner Zukunft. Ich möchte ein Leben mit ihm - und teilweise für ihn - auch nach dem Krieg." - Dazu Sartre in hohem Alter: "Grundsätzlich war es mir egal, ob eine Frau, mit der ich eine Beziehung hatte, noch anderweitig gebunden war. Die Hauptsache war, daß ich für sie an erster Stelle kam. Ein Dreieck, in dem ich mit einem anderen konkurriere, der einen besseren Stand bei der Frau hat - das war eine Situation, die ich nicht ertragen konnte." Und dann ist da noch Beauvoirs Theorie der Unwahrhaftigkeit, ebenfalls in "Sie kam und blieb" entwickelt. Darin beschreibt und vergleicht Beauvoir vier Arten, den menschlichen Körper zu erfahren (später eine zentrale Frage in Sartres "Das Sein und das Nichts"). Erstens: Mein Körper als Teil meiner gelebten Subjektivität, als das Instrument, mittels dessen ich in der Welt bin. Zweitens: Mein Körper, wahrgenommen durch andere. Drittens: Die Körper der Anderen. Viertens: Mein Körper als rein physisches Objekt (der "Körper" des Cartesianischen Dualismus von Geist und Körper). Beauvoirs Nachtklubzszene (Seite 47 bis 57) schwenkt hin und her zwischen diesen vier philosophischen Blickpunkten. Der Erzähler stellt in der dritten Person die Körper der anderen vor: Die junge Frau, die mit ihrem Begleiter spricht; die Frau mit den Federn im Haar, die die Hand eines Mannes beobachtet; die Frau mit den Federn im Gespräch; Xaviere, wie sie sich selbst berührt und mit sich selbst spricht. Doch wird in dieser Szene auch Francoises Bewußtsein vorgeführt, daher ihr un-bewußter Gedanke, ihren Körper als Mittel zum Zweck (Denken, Hören, Sprechen) zu erfahren. Diese beiden Möglichkeiten, den menschlichen Körper zu erfahren - als ein Objekt, das der Subjektivität eines anderen ausgeliefert ist, sowie als Teil der eigenen Subjektivität - sind Bestandteil der meisten literarischen Texte. Die bewußte Art von Beauvoir, auch noch die anderen beiden Möglichkeiten mit einzublenden, beweist ihre philosophische Absicht.

Die beiden Frauen, die von Männern belästigt werden, werden einander gegenübergestellt in der Art, wie sie darauf reagieren, ihre Körper ungebeten als Objekte der Subjektivität eines Anderen zu erfahren. Die Frau mit der symbolträchtigen Feder im Haar entschließt sich, ihren Arm lediglich als ein Ding zu begreifen, das ihrer eigenen Subjektivität zugeordnet ist. Auf ähnliche Weise wird die Aufmerksamkeit der Leserin und des Lesers auf den "feinen Flaum" auf Xavieres Arm gelenkt. Beauvoirs Beschreibung, wie Xaviere sich berührt, illustriert die unüberbrückbare Kluft zwischen der Erfahrung des eigenen Körpers als Subjekt und als Objekt. In "Das Sein und das Nichts" verwendet Sartre ausführliche Beispiele, wie jemand sich berührt, um seine Theorie des Körpers und der Möglichkeiten des Seins zu diskutieren. In der Nachtklubszene diskutiert Beauvoir nicht nur die möglichen Beziehungen zwischen Geist und Körper, sondern führt auch das Konzept der Unwahrhaftigkeit vor, eine weitere fundamentale philosophische Idee, die später im Zentrum von Sartres "Das Sein und das Nichts" stehen wird. Die Frau, deren Hand ergriffen wurde und die nun beschlossen hat, ihren Arm lediglich als ein lebloses Stück Fleisch zu begreifen - die also so tut, als wär nichts, während sie mit dem Mann weiterdiskutiert - hat sich ein Problem aufgehalst. Da sie das Begehren des Mannes nicht wünscht, möchte sie den Eindruck aufrechterhalten, der Mann begehre lediglich eine Unterhaltung mit ihr. In Reaktion auf dieses Dilemma spaltet sie die beiden Hälften ihres menschlichen Seins voneinander ab: daß sie zugleich Subjekt und Objekt ist. Nach Beauvoir und Sartre entsteht Unwahrhaftigkeit immer dann, wenn Individuen sich weigern, die beiden Seiten ihrer Existenz miteinander in Einklang zu bringen. Diese Idee galt in Sartres "Das Sein und das Nichts" als besonders aufsehenerregend. Warum ließ Beauvoir diesen geistigen Diebstahl durch Sartre zu? Unsere Vermutungen: Beauvoirs erste Sammlung von Erzählungen ("When Things of the Spirit Come First") war 1937 von Gallimard abgelehnt worden. Der Verlag, der Sartres "Der Ekel" anstandslos veröffentlichte, begründete die Ablehnung damit, daß ihr Buch die gesellschaftlichen Spielregeln darüber verletze, was zum Thema Frauen und darüber, was Frauen denken, der Öffentlichkeit zuzumuten sei. Beauvoir wußte also, daß ihre Ideen als philosophischer Text nicht veröffentlichbar waren. Also verkleidete sie ihre Ideen in einen Roman, wo sie bis heute nicht erkannt wurden - außer von Sartre.
Es gibt auffällige Hinweise im Roman selbst an den Leser Sartre, ihre Ideen doch aufzugreifen. Im ersten Kapitel, während Beauvoir ihre neue Version westlicher Philosophie umreißt, ist die Hauptfigur Francoise, das alter ego der Verfasserin, damit beschäftigt, eine neue Fassung des "Julius Cäsar" zu erarbeiten, die später Pierre, dem Roman-Sartre, zugeschrieben und mit der er brillieren wird. Etwas später stellt Francoise sich vor, wie Pierre angereist kommt und ihr Manuskript begeistertübernimmt. Bei der Beschreibung der ersten Aufführung des Stücks, in dem Pierre selbst den Cäsar gibt, beschreibt sie sich als heimliche Schöpferin von Pierres Worten.

Es muß für sie manchmal sehr bitter gewesen sein, still zuzuhören, wie Sartre mit ihren Ideen angab, sie manchmal durcheinander brachte, sie aber stets ausschließlich als seine eigenen ausgab. Beauvoir ermutigte Sartre jedoch auch bei dieser Täuschung. Wie sie ihn als Marionette zur Verbreitung ihrer eigenen Ideen einsetzte, um die Welt hinters Licht zu führen, so lebte sie auch ihr privates Leben nach innen anders, als sie es nach außen darstellte. Dabei war sie sich anscheinend sicher, so viele Ideen zu haben, daß noch genügend für sie selbst übrigbleiben würden.
Gesamten Bestand von FrauenMediaTurm anzeigen

Kontext

wird geladen...

Standort

Frauenmediaturm – Feministisches Archiv und Bibliothek

Bayenturm / Rheinauhafen
50678 Köln
Telefon: +49 (0)221 931 88 10
Öffnungszeiten
Mo-Fr. 10-17 Uhr, nach Voranmeldung. Die Anmeldung kann telefonisch, per Mail oder über das Kontaktformular erfolgen. Die Einrichtung ist nicht barrierefrei

Ich stimme der Nutzung von Google Maps zu.

Ähnliche Einträge