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Frauenland in Kreuzberg?

Verfasst von: Hentschel, Gitti
in: EMMA
1987 , Heft: 7 , 16-23 S.

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Einrichtung: FrauenMediaTurm | Köln
Signatur: Z-Ü107:1987-7-a
Link: Volltext
Verfasst von: Hentschel, Gitti
In: EMMA
Jahr: 1987
Heft: 7
ISSN: 0721-9741
Sprache: Nicht einzuordnen
Beschreibung:
"Ohne einen bestimmten Größenwahn wäre dieses Projekt nicht möglich gewesen."

Berlin-Kreuzberg, Sanierungsgebiet SO 36. Heruntergekommene Altbauten, unwirtliche Neubauten und dazwischen ein paar renovierte Fassaden. Viel Stein, wenig Grün. Viele Kneipen, viele Alkoholiker und inmitten der Tristesse das Alternative, das auch nicht immer heiter ist. Nirgendwo in Berlin leben so viele Menschen so dicht auf dicht, nirgendwo so viele Türken, nirgendwo so viele Sozialhilfeempfänger/innen (56 % vegetieren unter dem amtlich definierten Existenzminimum!). Jede/r dritte Jugendliche ist Ausländer/in. Resignation und Revolte finden hier reichlich Nahrung. Mit den Problemen, die ihnen die Interessen und Ignoranzen der Mächtigen bescherten, sind die Ohnmächtigen hier allein gelassen. Das rächt sich jetzt. Seit der Plündernacht am Lausitzer Platz, in der Punks und Rentner die Supermärkte leer räumten und die Nacht durchmachten, sind die Ordnungshüter nervös geworden. Die Polizei rüstet auf: gegen die Kreuzberger/innen. Mitten in diesem Tohuwabohu, mitten im Kiez blüht die Utopie: entsteht ein Freiraum, ein Stück Frauenland. Hier, in der,, Schoko ", der ehemaligen Schokoladenfabrik, treffen sich auch Nilifer und Nigar mit Ilse und Caroline. Alle vier machen mit beim "Selbstverteidigungskurs" , und das macht ihnen sichtbar Spaß. Sie haben mehr gemeinsam, als auf den ersten Blick zu vermuten wäre, aber es trennen sie auch Welten.

Die Mutter von Ilse und Caroline studiert - heute - Mathematik; die Mutter von Nilifer und Nigar ist - immer noch - Analphabetin. Aber: Ilses und Carolines Mutter war jahrelang eine geschlagene Frau und konnte nur dank der Existenz eines Frauenhauses aus der Ehehölle flüchten; und die beiden kleinen Mädchen waren so fertig, dass sie mit fünf noch nicht sprechen konnten. Heute sind alle drei heilfroh, in einem Frauenhaus leben zu können. Nilifer und Nigar, die in ihrer Familie leben, haben einen relativ toleranten Vater, der sie "sogar" in die "Schoko" gehen lässt. Für die beiden jüngen Türkinnen ist das der Ort, der ihnen ungewohnt vieles möglich macht. Die 14- und die 16-jährigen wirken lebhaft und selbstbewusst.

Die "Schoko", ein riesiges Gebäude, das sich über zwei Hinterhöfe erstreckt, wurde 1981, in der Hochphase der Hausbesetzer/Innenbewegung, von Frauen okkupiert. Eine Gruppe von Architektinnen, Sozial- und Stadtplanerinnen hatte, auf der Suche nach Frauen-Frei-Räumen, die leer stehen- de, völlig verrottete Fabrik entdeckt.

Mit Phantasie und Energie machten die Frauen sich daran, ihre Utopien in die Wirklichkeit umzusetzen. Mit Erfolg, wie die heutige "Schoko" beweist. Aus der alten Ruine ist ein Freiraum für Frauen geworden - mit den Unvollkommenheiten, die realisierte Utopien so an sich haben.

Hier arbeiten, feiern und leben Frauen. Gleich neben Marion und ihren Töchtern wohnen in einem Flügel der Fabrik noch andere allein stehende Frauen, mit und ohne Kindern, teilweise in Wohngemeinschaft: Frauen aus dem Verein der "Schoko" und aus dem Kiez, vor allem Frauen, die besondere Hilfe und Unterstützung brauchen. "Die Wohnungen", schwärmt die 32-jährige Marion, "sind den Bedürfnissen der Frauen ideal angepasst." Zum Beispiel muss sie, wenn sie ihre Zimmertür zumacht, nichts mehr von dem Radau ihrer Töchter im Kinderzimmer mitkriegen. Nur das Humus-Klo, ein ökologisches Experiment, durch das Kompost gewonnen werden sollte, funktioniert gerade nicht richtig.

Der andere Flügel der "Schoko", direkt gegenüber, soll Frauen in- und außerhalb des Kiez zu vielfältigen Aktivitäten animieren: Es gibt eine Holzwerkstatt und eine Sportetage, eine Beratungs- und Bildungsetage für deutsche, türkische und kurdische Frauen und Mädchen, eine Kunstetage für Ausstellungen und Kulturveranstaltungen und, als Krönung des Ganzen, eine Dachterrasse mit einem Grasdach und ökologischer Bepflanzung (ein Projekt der Öko-Gruppe). Kein Wunder also, dass ich hier Caroline und Ilse in der Hängematte schaukelnd antreffe. Stolz zeigen sie mir ihr selbstgezogenes Gemüse. Zur "Schoko" gehört selbstverständlich eine Kita und eine offene Kindergruppe für die Besucherinnen, die ihre Sprösslinge mitbringen.

Unvollendet, besser gesagt noch eine Baustelle, ist bisher das Cafe im Hochparterre. Es soll ein Treffpunkt für Frauen von außerhalb der "Schoko" werden, was dringend nötig ist. Denn momentan finden Begegnungen unter Frauen außerhalb der einzelnen Veranstaltungsangebote nur im Treppenhaus statt. Ungeklärt ist, wie es mit dem Lieblingsprojekt "Schoko" weitergehen soll, dem türkischen Bad. Zwar ist die Anlage dafür im Keller weitgehend fertig, doch will der Berliner Senat ausgerechnet für den Betrieb dieses idealen türkisch-deutschen Frauentreffs kein Geld geben. Marion wohnt mit ihren beiden Töchtern seit Anbeginn, seit Anfang letzten Jahres in der "Schoko". Vorher haben die drei in einem anderen Stadtteil -, ,ziemlich isoliert'' - gelebt. "Auf einmal ist meine Welt viel größer geworden", beschreibt die gebürtige Französin das Lebensgefühl, das sie hier entwickelt hat. Marion arbeitet neben ihrem Mathematikstudium in einem Frauenprojekt, durch das sie die "Schoko" kennen gelernt hat.

Spannend findet Marion das Leben in Kreuzberg, das "so ganz anders als anderswo ist. Man hat den Eindruck, es lebt hier doppelt, es sprudelt". Auch die Auseinandersetzungen mit der Polizei und die Zusammenstöße schrecken sie nicht - dazu kann sie die Kreuzberger nur zu gut verstehen: "Der Widerstand ist berechtigt. Hier ballt sich eben alles, die Armut, die Verzweiflung." Und Marion weiß: "Die Blockaden gingen von der Polizei aus." Dass Kreuzberg seither von Polizei förmlich belagert ist - auch daran hat sie sich gewöhnt. Sorgen macht sich Mutter Marion nur um die Töchter. Sie werden häufig von Jungen und Männern auf der Straße angemacht. "Richtig schlimme Erlebnisse" haben die beiden schon gehabt, gerade auch mit türkischen Jungen. Das einzig Positive daran: "Seit wir hier wohnen, sind die beiden frecher, aufmüpfiger geworden. Draußen verhalten sie sich seitdem solidarisch miteinander und streiten viel weniger." Die "schlimmen Erlebnisse" waren für Ilse und Caroline Auslöser, in einen Selbstverteidigungskurs in der Sportetage der "Schoko" zu gehen. "Toll" finden die beiden, dass er nichts kostet. Der Senat finanziert die Sportkurse für Kinder. Obwohl sich beide Mädchen im Kiez "nicht so wohl fühlen", finden sie das Leben in der "Schoko" doch "viel besser" als vorher. Caroline: "Man kann überall im Haus hingehen und fühlt sich hier so richtig geschützt." Für Uneingeweihte, die durch die Straßen schlendern, ist das Frauenstadtteilzentrum nicht ohne weiteres zu entdecken. Kein Schild weist darauf hin. Lediglich an die Toreinfahrt ist "Schoko" gesprüht. Und auf die heruntergezogenen Rollläden des kleinen Ladens im Vorderhaus, der früher Cafe und Anlaufstelle für die "Schoko'' war, ist vorwurfsvoll gekritzelt: "Gibt's hier etwa Lesben?"

Auch in der Umgebung, bei den Verkäuferinnen der Läden in der Nachbarschaft zum Beispiel, ist das Projekt unbekannt oder unbeachtet. Was sagen die ,,Schoko"- Frauen dazu? Einerseits schützt sie die Anonymität vor aggressiven Übergriffen männlicher Kiezbewohner, andererseits widerspricht das ihrer Vorstellung von einem wirklichen Frauenstadtteilzentrum. Mit ihr er Öffentlichkeitsarbeit allerdings sprechen sie tatsächlich vorwiegend Frauen aus der Frauenbewegung und weniger Nachbarinnen an. So ist es nicht weiter verwunderlich, wenn zum Sport, zu Tanz-, Atem- und Gymnastikkursen in der Sportetage ebenso wie zu politischen oder kulturellen Veranstaltungen und Festen zwar Frauen aus ganz Berlin kommen, die "Kiez"-Frauen selbst aber rar sind. Gudrun von der "Bildungsgruppe": "Wir wollen kein Psycho- oder Sozialprojekt sein, sondern eher offensiv in der Bewegung wirken." Das Dilemma der "Schoko": durch den Unterstützungsmodus des Senats ist ihr die Sozialarbeit in gewisser Weise aufgedrückt worden. Dafür bekommt sie Geld, nicht aber für feministische Kultur- und Bildungsarbeit (dafür müssen die Teilnehmerinnen Beiträge zahlen).

Die einzige Gruppe, genauer gesagt, die einzige "Schoko"-Mitarbeiterin, die den Widerspruch zwischen feministischem Projekt und Frauenstadtteilarbeit gelöst zu haben scheint, ist die Türkin Rakibe. Die 43-jährige Rakibe, die seit über 20 Jahren in der Bundesrepublik lebt, ist eine der wenigen ,,Schoko"-Frauen, die von An fang an dabei war. Klar für sie, dass "gerade in einem Bezirk wie Kreuzberg" auch für Frauen aus der Türkei Raum sein muss. Ein halbes Jahr lang hat Rakibe zu Beginn fast täglich Familien aus der Türkei im Stadtteil besucht, mit den Frauen gesprochen, ihnen erzählt, was los ist in der "Schoko": Alphabetisierungs- und Deutschkurse für die Frauen, Beratungen aller Art, Schularbeitshilfen und Nachhilfe für die Mädchen.

Rakibes mühsame Kleinarbeit, bei der sie immer auch die Männer überzeugen musste - schließlich haben sie das letzte Wort darüber, ob die Frauen und Töchter in die "Schoko" gehen, .dürfen'' - hat sich gelohnt: Gleich zu Anfang kamen 30 Türkinnen begeistert und regelmäßig; auch das damals noch unwirtliche, kalte Gebäude konnte sie nicht abschrecken. Endlich hatten sie einen Ort, wo sie sich ungestört treffen und aussprechen konnten. Schleunigst musste damals eine Kinderbetreuung organisiert werden, denn die Türkinnen brachten ihre kleinen Kinder selbstverständlich mit. Die Räume, in denen sich die Frauen und Mädchen aus der Türkei treffen, scheinen mir die gemütlichsten in der ganzen "Schoko": groß, hell, wohnlich eingerichtet mit einer Kochecke. Überall Leben und Aktivität. In dem einen Raum schwatzt die Frauengruppe, nebenan machen die Mädchen gerade ihre Hausarbeit, mit lauter Musik (zu der sie auch tanzen). Begeistert erzählen sie mir, dass sie mit Rakibe auch schon in die Disco gegangen sind, heimlich, versteht sich, ohne Wissen der Eltern. Einige der Türkinnen aus dem Alphabetisierungskurs kommen schon jahrelang her, zum Beispiel Sadiye und Halwa, beide Mütter von fast erwachsenen Kindern. Sie arbeiten nicht nur zu Hause, sondern auch in der Fabrik. Die Gruppe ist wichtiger Bestandteil ihres Lebens geworden. Andere Frauen dagegen sind im Laufe der Zeit weggeblieben. "Zum Teil wegen der Kinder, oder weil der Mann sein Essen pünktlich auf dem Tisch haben wollte. Das haben sie dann nicht mehr geschafft. Und zwei haben sogar striktes Verbot bekommen hier herzukommen."

Nicht ohne Stolz sagt Rakibe, dass die Frauen, seit sie hier herkommen, viel aufmüpfiger und selbstbewusster geworden sind. Und genau das ist Ziel ihrer Arbeit. Selbstbewusst macht die Türkin Rakibe mir klar, dass es keinen Grund gibt, mitleidig auf, ,die armen Frauen aus der Türkei" herabzublicken. "Das sind keine schwachen, armen Frauen, sie sind wach und intelligent. Nur haben sie nie die Möglichkeit gehabt, zu lernen." Jetzt haben sie die Möglichkeit, dank einer türkischen und einer Handvoll deutscher Feministinnen.

Ein wunder Punkt der Arbeit ist der mangelnde Kontakt zwischen Frauen aus der Türkei und Deutschen. Für Rakibe liegt das an dem Desinteresse "und der Ignoranz" der deutschen Mitarbeiterinnen. Jüngstes Beispiel: Das "Schoko"-Fest zum sechsjährigen Bestehen fand abends statt, zu einer Zeit also, zu der die Frauen aus der Türkei ihre Familien nicht mehr verlassen können. "Wir wären so gern gekommen", sagt Halwa noch jetzt bedauernd.

Bei den Mädchen sieht das schon anders aus. Da ist die Trennung zwischen den Nationalitäten nicht mehr ganz so krass. Sie sind in denselben Schulen und auf denselben Spielplätzen. Inder "Schoko" treffen sie sich in gemeinsamen Sportkursen.

Als ich Nilifer und Nigar in ihrer Familie besuche, wollen sie allerdings von "Selbstverteidigung" nichts hören. Sport und Gymnastik machen sie dort, erklären sie listig. - Es ist schon ungewöhnlich vom Vater, dass er die Mädchen in den Sportkurs gehen lässt, mit einem ,, Selbstverteidigungskurs" wäre er vermutlich wirklich überfordert. Schon will Mutter Immra, ermutigt durch ihre Töchter, demnächst , ,auch mal in die Schoko kommen". Sie wird sicherlich begeistert empfangen werden von Rakibe.

Ein paar Schritte vom Treffpunkt der Türkinnen entfernt liegt großräumig, hell und ohne Möbel: die Kunstetage der "Schoko". Sie wird auch als Versammlungsraum bei Veranstaltungengenutzt. Zur Zeit stellt Christine Franken dort ihre Bilder aus. Es ist ihre erste Ausstellung. Christines Werdegang ist genauso farbig wie ihre Bilder. Sie ist 56 Jahre und hat erst vor acht Jahren angefangen zu malen. "Vorher habe ich mich von anderen auffressen lassen und mir selbst nichts zugetraut." Erst nachdem sie sich aus schwierigen Männerbeziehungen befreit hatte, traute sie sich an die Malerei. "Das Abenteuer des Lebens hat für mich da erst begonnen", erzählt die Mutter eines 21jährigen Sohnes, die vorher zwölf Jahre lang Lehrerin war.

Die Entwicklung der Kunstetage ist beispielhaft für viele Schwierigkeiten, mit der die "Schoko" als selbst verwaltetes, langjährig facettenreiches und von vielen Frauen entwickeltes Projekt zu kämpfen hat. Heute organisiert die 32jährige Sylvia, finanziert durch eine ABM-Stelle, die Aktivitäten im Kulturbereich. Früher war das Teil der Aktivi
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