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Die entfesselte Phantasie

Verfasst von: Sperr, Monika
in: EMMA
1983 , Heft: 3 , 20-21 S.

Weitere Informationen

Einrichtung: FrauenMediaTurm | Köln
Signatur: Z-Ü107:1983-3-a
Formatangabe: Rezension
Link: Volltext
Verfasst von: Sperr, Monika
In: EMMA
Jahr: 1983
Heft: 3
ISSN: 0721-9741
Sprache: Nicht einzuordnen
Beschreibung:
Ich gehöre zu denen, für die schon der 1976 erschienene Beatriz-Roman zum besten gehört, was je auf dem Gebiet der Literatur geleistet worden ist, hielt eine Steigerung also für nicht möglich. Nach der Lektüre von "Amanda - ein Hexenroman" muß ich sagen: die Morgner übertrifft sich selbst und läßt alles, was heute an Romanen geschrieben wird, ebenso mühelos wie weit hinter sich. Wieder benutzt sie eine phantastisch-ironische Struktur, die es ihr ermöglicht, weit entfernte Ereignisse aus der Welt- und Menschheitsgeschichte mit anscheinend banaler Gegenwart eng zu verknüpfen. Ein Kaleidoskop unserer Welt wird vorgeführt, im Mittelpunkt - da sie dort zu Hause ist - die DDR. Ein Staat, dem sie sich zugehörig fühlt, obwohl sie an ihm leidet, weil zu vieles im Argen liegt. Sie sieht die Mißstände und zeigt sie auf- geistreich, voller Ironie, lachend und leidend zugleich. Mit enormer Sprachkraft, entfesselter Phantasie, einem bestaunenswerten Wissen und vitaler Lust am Fabulieren, Erzählen, läßt sie ihre Trobadora in einer Nacht, gemacht, "die empörte Einbildungskraft zu verwildern" zum zweitenmal wiederauferstehen. Diesmal als Sirene mit Vogelkörper - da nur Sirenenstimmen jetzt noch gehört werden können: der Zustand unserer Welt gefährdet das Überleben. Mit Hilfe geheimen Blocksberg-Materials, unterstützt von Erdmutter Gajas Tochter Arke, beginnt Sirene Beatriz, einquartiert in eine Voliere im Tierpark Friedrichsfelde, die wahre Geschichte der Laura Amanda Salman aufzuschreiben. Weil diese aufsässige Triebwagenführerin. ein Querkopf von Geburt, keineswegs nur die durchschnittliche berufstätige Frau und Mutter ist, ,,wie im Roman der Morgner geschildert." Laura Amanda Salman. Tochter des Lokführers Johann Salman und seiner Hausfrau Olga, war Ende des Zweiten Weltkrieges zwölf Jahre alt. Das Überleben: ein Wunder! Warum also soll bei ihrer Geburt am 28. August 1933 nicht, wie berichtet, eine besenreitende Isebel erschienen sein? Wie sonst ließe sich ihr ungewöhnlicher Lebenslauf erklären?

Angeregt durch die Hexenküche im "Faust" beginnt die ehemalige Germanistikstudentin, seit 1961 als Triebwagenführerin und wegen ihres Sohnes Wesselin nur nachts auf den Schienen unterwegs - stehend, den Bewegungen des Zuges nachspürend - mit alchimistischen Experimenten in ihrer Küche. Diese wissenschaftlichen Versuche werden ihr von einem der Herren im Lande, dem Oberteufel Kolbuk, Beherrscher des Brockens, auch Blocksberg genannt, verboten.

Von nun an zweigeteilt muß Laura, wie fast alle Frauen, reduziert leben, und arbeiten. Ihre hiesige, "brauchbare", doppelbelastet weibliche Hälfte ist in Ost-Berlin, ihre abgetrennte Hälfte lebt unter dem Namen Amanda in hexischer Gestalt im Hörselberg, zusammen mit anderen "unbrauchbaren," hexischen Hälften. So in den Untergrund verbannt, bereiten sie den Sturz des Oberteufels und seiner Raben vor. Sie wollen den Blocksberg, inzwischen militärisches Sperrgebiet an der Nahtstelle von Ost und West, für die Frauen zurückerobern.

Laura, durch die Teilung in ihren physischen und psychischen Kräften halbiert, unternimmt im Zustande totaler Erschöpfung einen Selbstmordversuch. Sie wird von Amanda gerettet. Durch sie gestärkt und zu neuen Taten ermutigt, nimmt sie ihre alchimistischen Experimente wieder auf. Zur Freude ihres fünfjährigen Sohnes Wesselin, der Gestank und Knallerei in der Küche jubelnd kommentiert: "Meine Mamel, die kracht gut!" Da der Beistand des Sohnes zur Herstellung des gewünschten Schlafersatzelexiers nicht genügt, sucht Laura per Annonce eine Mitarbeiterin. Sie findet sie in der Sekretärin Vilma Gommert-Tenner, verheiratet mit Lauras erstem Mann Konrad, einem Archivar. Vilmas Kurzbiographie: Drei Kinder, zwei abgetrieben, ein abgebrochenes Studium. Ihr Trost während der zurückliegenden Jahre: "Bis vierzig vertagst du dich, dann lebst du nur noch für die Wissenschaft, das Vergnügen." Für Laura ist diese ebenso energische wie begeisterungsfähige Frau die ideale Partnerin. Aber Konrad Tenner, in jungen Jahren KZ-Häftling und psychisch nicht gesund, wütet in blinder Eifersucht. Vilma, an diese Anfälle gewöhnt, braucht lange, bis sie begreift: "Konrad Tenner war eifersüchtig, weil er außerstande war, sich vorzustellen, daß Wissenschaft für einen gescheiten erwachsenen Menschen von Vilmas Format heute noch verlockend sein konnte." Sie hält ihn für verrückt; er kontert: "Ganz gewiß, wer in einer verrückten Welt normal ist, muß krank sein." Außerdem, so höhnt er, würde die Zahl der Wissenschaftler im Jahre 2300 größer sein als die Erdbevölkerung, ereigne sich der Zuwachs an wissenschaftlich Arbeitenden weiterhin exponentiell wie bisher. Diese Entwicklung aber führe unvermeidlich zur Verstopfung, also zum Stillstand und damit zum Tode jeder Wissenschaft. In einem Anfall wildester Raserei zerschlägt Konrad Tenner die Alchimistenküche der Frauen, wird von Laura rabiat geohrfeigt, dankt ihr, begehrt sie wie in alten Zeiten - "ohne Lust kein Leben." Beide genießen ihr nächtliches Zusammensein; man trennt sich herzlich, ohne Reue. Vilma bleibt den gemeinsamen Experimenten mit Laura treu. So ist sie auch zur Stelle, als Amanda erscheint, um Laura zum Aufstand zu drängen. Minimalprogramm: Sturz der Teufelsdiktatur. Maximalprogramm: Errichtung der Hexendiktatur auf dem Blocksberg zum Zwecke der Weltverbesserung. Laura zitiert Oscar Wilde: "Egoismus besteht nicht darin, daß man sein Leben nach seinen Wünschen lebt, sondern darin, daß man von anderen verlangt, daß sie so leben, wie man es wünscht." Vilma hält die hexische Amanda erst für eine Hochstaplerin, dann für eine Terroristin. Sie verläßt die streitenden Frauen grußlos. Später flieht sie, nicht nur von ihrem eifersüchtigen Konrad immer stärker bedrängt, sondern durch undurchsichtige Machenschaften auch als Mitarbeiterin am Beatriz-Roman ins Gespräch und somit in Verruf gebracht, in eine Nervenklinik. Laura aber wird nicht nur vom Oberteufel Kolbuk, sondern auch von Zacharias, dem Oberengel und Gegenspieler Kolbuks, verfolgt: beide wollen sie zur Heirat zwingen, um die Widerspenstige zu zähmen. Da Laura weder der teuflischen noch der göttlichen Heiratserpressung nachgeben will, flieht sie mit ihrem Sohn in die Pritzwalker Produktionsgenossenschaft Felsenburg. Eine männliche Enklave, in der Frauen nur als Verkäuferinnen geduldet werden. Wesselin. an die steinerne Umwelt Berlins gewöhnt, hält die ländliche Umgebung für "schlecht gejätet". In diesem abgelegenen Asyl wird Laura von der bei ihrer Geburt anwesenden Isebel aufgesucht, die ihr Verrat an der hexistischen Sache vorwirft: Ausgerechnet bei Männern ist sie untergekrochen! So in die Enge getrieben, entwickelt Laura einen Fluchtplan, läßt sich von der trickreichüberlisteten Isebel nach Berlin zurückfliegen und findet in ihrer Wohnung Amanda vor, gleichfalls auf der Flucht. Lauras hexische Hälfte verdächtigt Konrad Tenner des Verrats, findet aber kein Gehör: "Verdächtigungen einer Erpresserin!" Wütend schwingt Amanda sich aus dem Fenster und in die Höhe - himmelwärts!

Dieser von vielen beobachtete Fenstersturz vom 31. März 1977 aus dem 21. Stockwerk eines Hochhauses in der Leipziger Straße macht DDR-Geschichte. Alle Zeugen werden, sofern sie tatsächlich die fliegende Laura Salman gesehen haben wollen, mystischer Tendenzen verdächtigt. In der Humboldt-Universität findet eine Sitzung zur ideologischen Situation an der Hochschule statt. In einem ZDF-Kommentar heißt es: "Die DDR verliert mit ihr eine international bekannte Feministin. Die Welt verliert mit ihr eine Frau von Rang."

In Wahrheit ist die so im Nachhinein Betrauerte und Gerühmte unterwegs, auf der Suche nach einem Mann: ihr Sohn Wesselin braucht dringend eine männliche Identifikationsfigur, sie selbst einen Helfer zur Überlistung von Oberteufel und Oberengel. Der gesuchte Held und furchtlose Streiter scheint der Wissenschaftswissenschaftler Dr. Heinrich Fakal zu sein, ein Jugendfreund, inzwischen "jenseits der Vierzig und der Scheidung". Er macht sich auf zum Hörselberg, kehrt aber nicht zurück. Verrat? Verrat!

Laura begibt sich auf die Suche, steigt von Wutha aus hinauf zum Kalksteinblock - eine Bergbesteigung in den hexistischen Untergrund: "Im Süden steilwandige Abstürze, im Norden geht der Berg in eine Hügellandschaft über. Obgleich er kaum 500 Meter hoch ist und mit den anderen Erhebungen des Thüringer Waldes nicht konkurrieren kann, geben ihm Vereinzelung und jähes Aufsteigen aus dem Tal ein gewaltiges Aussehen." Neben der Venushöhle: Konrad Tenner! Für ein Arbeitszimmer im Hörselberg hat er den von Laura Gesuchten an den Oberteufel Kolbuk ausgeliefert. Ein Verrückter eben, der um jeden Preis zu den hexischen Frauen will, weil er sie für die größten ketzerischen Potenzen hält - "fähig, das Mögliche von übermorgen zu bedenken." Der Inhalt dieses monumentalen - und unübersehbar autobiographischen - Werkes ist hier sehr verkürzt und entsprechend unzulänglich wiedergegeben. Eingeblendet werden zahlreiche Lebensläufe, Berufsbilder, Interviews; die Sprache der Morgner paßt sich nicht nur dem jeweiligen Genre, sondern auch den geschilderten Charakteren, ihrem Milieu, ihrer spezifischen Ausdrucksform an. Da kann ihr an sich phantastisch-skurriler Stil knapp, fast hart werden, wie beispielsweise bei dem Portrait eines Oberbauleiters: "Er präsentiert sein Herz nicht auf der Zunge, sondern in termingerechten, ohne Verlust abschließenden Bauübergaben." Das Buch, zusammengesetzt aus 139 Kapiteln, ist auch, ja vor allem, ein feministischer Politroman. Insider, die die Zustände in der DDR ebenso kennen wie die Gruppen- und Flügelkämpfe innerhalb feministischer Bewegungen werden ein doppelbödiges Vergnügen haben. Darüber hinaus hat die Morgner das gesamte klassische Bildungsgut von der Antike über Altvater Goethe und dem DDR-Heiligen Brecht parat. Sie verstrickt die großen Mythen und Legenden ,,führt ins Mittelalter mit seinen barbarischen Riten und Unterdrückungsmethoden, kennt sich aus in hochgelehrten Reden und Erkenntnissen, benutzt Zaubersprüche und Rätsel ebenso wie alchemistische Formeln. Nie wirkt sie dabei besserwisserisch, immer ist sie geistreich, witzig, mitreißend. Dabei verschweigt und beschönigt sie nichts: Der Zustand der Welt ist, schlicht gesagt, katastrophal. Und der der Frauenwelt teuflisch!
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