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Nicht nur das schöne Bild : die zarte, zerbrechliche, wahnsinnige Selbstmörderin? ; der Blick in die Biographie widerlegt diese Vorstellung gründlich

Verfasst von: Strobl, Ingrid
in: EMMA
1980 , Heft: 1 , 30-36 S.
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Einrichtung: FrauenMediaTurm | Köln
Signatur: Z-Ü107:1980-1-a
Formatangabe: Porträt
Link: Volltext
Verfasst von: Strobl, Ingrid
In: EMMA
Jahr: 1980
Heft: 1
ISSN: 0721-9741
Sprache: Nicht einzuordnen
Beschreibung:
Reporter des Expreß, des Mirror und zahlreicher anderer Zeitungen und Boulevardblätter stürmen das Haus am Londoner Fitzroy Square 29. Sie sind einem Skandal auf der Spur. Ihre Suche gilt in erster Linie einer jungen Dame mit angeblich "klassischen Gesichtszügen". Sie erhalten das ersehnte Interview, die Dame läßt sich jedoch nicht fotografieren. Doch sie war schon wenige Tage zuvor ganzseitig auf den meisten Titelblättern zu bewundern gewesen, die "klassischen Gesichtszüge", allerdings schwarz verschmiert und durch ein elegantes Schnurrbärtchen samt Spitzbart etwas verfälscht. Man schrieb das Jahr 1910, die junge Dame war Virginia Stephen, Tochter des Gelehrten Leslie Stephen und Schwester des unbelehrbaren Adrian Stephen, Cambridge-Student und Urheber des Trubels: Er hatte zusammen mit Freunden den fatalen Plan ausgeheckt, die allerhöchsten Geheimhaltungsbestimmungen der Britischen Navy zu durchbrechen und trickreich ein top-secret-gehaltenes Kriegsschiff zu besuchen: Natürlich nicht als Mr. Stephen und Freunde, sondern als Kaiser von Abessinien samt Gefolge. Er selbst spielte dabei den Übersetzer, Virginia Gefolge. Der Streich gelang, sie wurden von der Besatzung ehrerbietig empfangen, einer der übermütigen Freunde verständigte anderntags die Presse und sorgte wie erwartet für Schlagzeilen. Die Nation entflammte in heller Empörung, wütende Leserbriefe stapelten sich in den Redaktionen, die Leitartikler schwankten zwischen Lachen und Entrüstung. Virginia Woolf erzählte noch Jahre später, nun schon berühmte Schriftstellerin, im Memory-Club kichernd ihren Jugendstreich.

Party-Schreck

So jung war sie dabei gar nicht, mit ihren 28 Jahren hätte sie längst verheiratet und wohlanständig sein können. Statt dessen trieb sie sich mit Intellektuellen, Linken, Homosexuellen, Ausgeflippten herum, unterstützte ihre Schwester in der Vorbereitung einer Nach-Impressionisten-Ausstellung, die auch prompt zum Skandal geriet, und schrieb kritische Artikel für "The Times Literary Supplement".
Auf dem Nach-Impressionisten-Ball fiel sie durch ihr unangemessenes Kostüm auf: Sie erschien zusammen mit ihrer Schwester, der Malerin Vanessa Bell, als Gaugin'sche Südsee-Insulanerin verkleidet. Eine Zeitlang hielt sie ihre Freunde durch die Ver- und Ent- und wieder beinahe Verlobung mit dem bekannten Homosexuellen Lytton Strackey (einem ihrer vertrautesten Freunde) in Atem, dann wieder durch ihre scharfe Kritik an zeitgenössischen Schriftstellern. Ihr Spott war gefürchtet, ihr Humor hochgeschätzt, ihre Intelligenz bewundert und ihre Schönheit vergöttert.
Sie tat hundert wichtige Dinge gleichzeitig, und 1911 finden sie die Freunde und Freundinnen über einen Stapel Kuverts gebeugt, die sie mit Namen und Adressen beschriftet: Ihre - sehr spontane - Art, die Sufragetten-Bewegung zu unterstützen. Sie hatte schon lange mit der Frauenbewegung sympathisiert und sich dann, auf die Bitten der Frauenrechtlerin Janet Case um praktische Unterstützung, entschlossen, die Handarbeit mit zu übernehmen. Daß sie für direkte aktive Politik nicht allzusehr geeignet war, hatte sie wenige Jahre zuvor erfahren: Auf das Ansuchen der Leiterin einer Art Arbeiterbildungsverein in Sheffield hatte sie vor Arbeitern und Arbeiterinnen Vorträge über englische Literatur und Geschichte gehalten. Sie hatte die Stunden allerdings nicht genützt, um zu agitieren, sondern um die Phantasie der "Schüler" anzuregen. Das konnte so rasch nur bei wenigen gelingen, und Virginia Woolf sah die Zusammenhänge, wollte sich jedoch nicht direkt darauf ausrichten.

Unpoetische Adressen

So zog sie es vor, anstelle eines Aufsatzes über "Die Geschichte der Bewegung für das allgemeine und gleiche Stimmrecht in Neuseeland", Adressen zu schreiben. Während sie sich so praktisch betätigte, wälzte sie im Kopf höchst theoretische Probleme:Über dem Zusammenhang zwischen der Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht und den Schwierigkeiten, Literatur zu produzieren. Außerdem schrieb sie zur selben Zeit an ihrem ersten Roman, "The Voyage out". So weit, so gut.

Doch da hängt in meinem Zimmer so gut wie in allen Wohngemeinschaften und Frauenwohnungen, die ich kenne, in fast allen Frauenbuchläden und Frauenlokalen ein Bild, das nicht ins Bild paßt.

Ein zartgesichtiges, fragiles Wesen mit den ebenmäßigsten Zügen, verträumten Augen und romantisch zurückgeschlungenem Haar erweckt die liebevolle Teilnahme, die gerührte Neugier der Betrachterin.
Dieses Wesen, so weiß frau inzwischen, ging, vom holden Wahn umfangen, ins Wasser. Ein weibliches Schicksal. Unter der fluchbeladenen Bürde, genial zu sein, mußte das zarte Weib zusammenbrechen, schon der lieben, armen Schwester Plath ward es so ergangen, wie konnte es auch anders sein - es ist nicht die Natur der Frau, aus der Reihe zu tanzen, Großes zu leisten - wie männlich! Traurig ist es, eine Frau zu sein, leidvoll und opferreich, gesellt sich zum Leid der Wahn, steigert es sich zu Tragik. Die starke, lebensfrohe, begabte, mutige, widersprüchliche, mit dem Wahnsinn kämpfende Künstlerin wird zur ästhetischen Plakatwand für alle möglichen weiblichen Projektionen: Identifikation mit Schwäche ist das Motto, das Leitthema der Woolf-Rezeption in Deutschland durch die Teile der Frauenbewegung, die Frauen reduzieren aufs Opfer-Sein. War die Autorin hierzulande noch vor wenigen Jahren nur einer literaturbegeisterten Elite bekannt, verstaubten die Fischer- und Suhrkamp-Ausgaben der international bewunderten Schriftstellerin in deutschen Buchläden, so ist seit einiger Zeit doch so etwas wie eine Woolf-Renaissance zu bemerken.

Die Protagonistin

Wobei es leicht übertrieben ist, von einer Renaissance, einer Wieder-Entdeckung der Autorin zu sprechen, denn, wie gesagt, in deutschsprachigen Landen hatte man mit der üblichen Aufgeschlossenheit fremdsprachiger Literatur gegenüber großzügig über Woolf hinweggesehen (wie auch über Djuna Barnes zum Beispiel, deren Entdeckung noch immer aussteht). Im Ausland dagegen gibt es nichts wiederzuentdecken, denn da ist das Werk der Woolf seit Ersterscheinen Gegenstand fortlaufender Kritiken, Diskussionen, Seminare, wissenschaftlicher Arbeiten, Vorlesungen und intellektueller Auseinandersetzungen. Der normale Rezeptionszustand eines großen Schriftstellers. Zurück in die Bundesrepublik: Seit einigen Jahren also erfreut sich Virginia Woolf zunehmender Bekanntheit und Beliebtheit, was sie einzig und allein der Frauenbewegung zu verdanken hat, die in ihr eine Protagonistin witterte. Das plötzlich erwachte Interesse ermutigte auch den Fischer-Verlag, die verstaubte und vergriffene Roman-Ausgabe wieder aufzulegen, die neuen Woolf-Begeisterten stürzten sich auf das Material. Die theoretische Grundlage des Woolf-Enthusiasmus, ihre politischen Reflexionen zum Thema Frauen und Literatur, Produktionsbedingungen und Imaginationen, die beiden Bände "Ein Zimmer für sich allein" und "Drei Guineen" wurden vom Gerhard-Verlag und von der Frauenoffensive herausgebracht. Doch das alles nützte nichts. Es konnte den Zauber nicht brechen, den das Plakat auf die Phantasien ausübte, und das ist auch nicht zu verwundern: Ist es doch wesentlich einfacher, vor einem schönen Bild zu meditieren über Wesen und Schicksal der dargestellten Schönen, als sich mühevoll auf deren literarisches Werk einzulassen, das sich enttäuschenderweise als gar nicht so einfach erweist. Nix is mit Romanen, die man verschlingen kann, eins mit den identifikationsträchtigen Heldinnen. Nein, das ist richtige Literatur, schwierig, ohne festumrissene Heldin und Handlung, moderne Literatur, die Zeit und Engagement fordert, und die einem vom Stil her womöglich gar nicht liegt.

Doch all das soll die Begeisterung nicht schmälern. Obwohl niemand, dem Madame Bovary nicht gefällt, auf die Idee käme, von Flaubert zu schwärmen, ihm wiewohl zugestehen müßte, daß er ein großartiger Schriftsteller ist, findet man dennoch zahllose Woolf-Enthusiastinnen, die nicht über drei Seiten ,,Wellen" hinausgekommen sind.

Theorieverbot

Das wäre an sich noch immer nicht weiter anstößig, gibt es doch ausreichend Grund für Begeisterung, die über die literarische Produktion hinausgeht: Die größte Freude besteht ja schon darin, daß dieser berühmte Schriftsteller (egal, wie einem die Werke gefallen) weiblichen Geschlechts war. Und, darüber hinaus - sich dem eigenen Geschlecht gegenüber nicht, wie viele Kolleginnen, indifferent oder gar feindlich verhalten hatte, sondern offen mit der Frauenbewegung und ihren Inhalten sympathisiert und selbst theoretische Standardwerke zur Frauenfrage geliefert hatte, und auch privat intensive Beziehungen mit Frauen pflegte. Ihre "Affäre" mit Vita Sackville West hatte einiges Aufsehen erregt. Kritisierenswert erscheint vielmehr die Begeisterung, die sich weder aus dem Werk noch aus der Kenntnis der Biographie nährt, sondern aus den eigenen Projektionen von Schwäche, Leid und Scheitern.

So eindimensional und politisch gefährlich der Umgang mit Virginia Woolf in Teilen der Frauenbewegung ist - ihre Einschränkung auf die Geschlechtszugehörigkeit und ihre Einordnung in den masochistischen Mechanismus: Willst du was Besonderes sein, mußt du leiden (eine frauenspezifische Neuauflage der alten "Volksweisheit" "wer hoch steigt, muß tief fallen") - so borniert und unredlich ist das Umsichschlagen mit Zitaten, das nun in der Männer-Presse losgeht. Nun wirft sich auch das Feuilleton ins Gefecht, nicht ertragend, daß da Frauen etwas entdecken und für sich reklamieren, was doch eigentlich "uns" gehört, den zuständigen Fachleuten, dem heiligen Kulturbetrieb! Da sind alle Mittel recht. Von Dummheit bis Gemeinheit. Und so wird zum Beispiel im Zeit-Magazin Nr. 46 (November 79) versucht, den Feministinnen eines ihrer Standardwerke aus der Hand zu schlagen: Der "Essay ,Ein Zimmer für sich allein', . . . der gern von Emanzen-Postillen mißbraucht wird. In diesem großen Bastard aus Poesie und Fakten ist zwar, angenehmerweise auf der zweiten von 106 Seiten, der Satz zu lesen: ,Eine Frau muß Geld haben und ein Zimmer für sich allein, wenn sie fiction schreiben will', und es wird auch eine hypothetische Geschichte von Shakespeares Schwester . . . erzählt . . ., aber diese ganze Argumentation wird zerstreut und verstreut vorgetragen. . .".

Feuilleton-Schlacht

Mal abgesehen davon, daß das Zitat so nicht stimmt; abgesehen davon, daß die Autorin dieser Bemerkungen, Petra Kipphoff, das Buch offenbar nicht gelesen hat, da es von nichts anderem handelt, als von den Bedingungen, die eine Frau braucht, um literarisch kreativ arbeiten zu können; abgesehen von der Ignoranz, Virginia Woolf in einem ihrer theoretisch wichtigsten und gründlichsten Essays "Zerstreutheit" vorzuwerfen; abgesehen von alledem entlarvt der Schluß des "Zeit"-Artikels ("und es ist kein Zufall, daß nicht die argumentativen, sondern die dichterischen Passagen die Stärke des Buches sind") die Absicht. Merke: Ein weibliches Genie mag wohl dichten, nicht aber denken. Nachträgliches Theorieverbot für die Autorin des Buches, von dem Simone de Beauvoir sagt: " ,Ein Zimmer für sich allein' ist der wichtigste Beitrag zum Thema Frauen und Kreativität überhaupt..." Doch es kommt noch dicker: Virginia Woolfs Abschiedsbrief an ihren Mann Leonard Woolf wird da zitiert wider alle Feministinnen, die die Feministin Woolf in ihre Reihen zu stellen wagen. Da wird die Tatsache, daß Woolf eine menschlich wichtige Beziehung zu einem Mann hatte, plötzlich zum Wurfgeschoß gegen die "Emanzen": Ätsch, sie war doch Weib! - "Zur Feministin und Männerfeindin taugt sie nicht". Ja, Virginia Woolf war Frau. Sie selbst war sich am besten der Behinderungen und Leiden durch die weibliche Mitgift bewußt. Sie wußte aber auch um die Stärken. Ja, sie war oft auch "weiblich", positiv wie negativ. Sie brauchte viel Sicherheit und Anerkennung, war abhängig vom Urteil anderer. Doch sie auf diese Aspekte ihrer Persönlichkeit zu reduzieren, grenzt an Unredlichkeit. Doch leider ist die Sicht so mancher Feministin nicht sehr viel umfassender. Der verkürzte Blick aufs Plakat nährt sich ja auch aus der völligen Unkenntnis der Biographie.

Es sei hier eingeräumt, daß es nicht gerade einfach ist, sich über Virginia Woolfs Leben zu informieren. Es braucht dazu entweder Geld oder Englischkenntnisse oder Geduld. Geld, um sich die 64 Mark teure Insel-Ausgabe der Quentin-Bell-Biographie über Woolf zu kaufen. Das hat nicht jede. Englischkenntnisse, um die wesentlich billigere englische Ausgabe derselben Biographie zu lesen, und die ebenfalls englisch erschienenen Briefe und Tagebücher. Viele Frauen verfügen nicht über die dazu nötigen gründlichen Englischkenntnisse. Gäbe es doch noch die Möglichkeit Geduld: Die könnte eigentlich jede Interessierte aufbringen. Die nötige Geduld nämlich, um sich in Leihbibliotheken die Beil-Biographie zu bestellen.

Schwäche-Mythos

Mal abgesehen von den drei Prozent, die sich das Buch weder leisten können noch es in der Bibliothek finden: Die Unkenntnis über das Leben, die Aktivitäten, den Krankheitsverlauf und die Arbeitsweise Virginia Woolfs frappiert. Um eines klarzustellen: Meine Kritik gilt nicht primär der normalen Rezipientin, Leserin, sondern denen, die am Schwäche-Mythos so eifrig basteln und das vorzugsweise auch noch öffentlich tun. Gerade mit der höchsten Identifikation paart sich nicht selten die gröbste Unkenntnis sowohl des Werks als auch der Biographie. Und das muß auch so sein, denn anders wäre die unreflektierte, dumpfe Identifikation mit Leid und Schwäche, die sich am Bild Virginia Woolfs auflädt, nicht möglich.

Es ist eines der bedenklichsten Symptome einer radikal antifeministischen und frauenverachtenden Tendenz in der Frauenbewegung, daß ausgerechnet auf eine der stärksten Figuren unserer mit Vorbildern nicht gerade übersäten Geschichte Schwäche, Zusammenbruch, Labilität projiziert werden.

Virginia Woolf hatte tatsächlich unter Schüben von "Irresein", psychischen Zusammenbrüchen zu leiden. Der erste Zusammenbruch erfolgte nach dem Tod der Mutter, akut gefährdet war sie nach Abschluß jedes ihrer großen Romane, der erste langanhaltende schwere Schub erfolgte nach ihrer Hochzeit. Virginia Woolf wußte sehr genau bescheid um ihre latente Gefährdung, sie lebte - auch - in Angst vor dem Auftauchen der Symptome. Doch nichts ist undialektischer, als die Schübe als Schicksalsschläge zu sehen, die sie apokalyptisch überfielen.

Titel - Nein Danke!

Angesichts ihres Lebensstils gegen alle von den Ärzten befohlene Schonung, ihrer Arbeit und ihrer vielseitigen politischen und literarischen Engagements ist es sogar verwunderlich, daß es nicht zu mehr Zusammenbrüchen kam. Virginia Woolf, das fragile Wesen, schrieb nicht nur einige der Klassiker der Moderne, "nebenbei" schrieb sie auch noch einige höchst amüsante und spannende Romane, wie etwa ,,Orlando" und "Flush". Beim Schreiben dieser "leichten Sachen" erholte sie sich von den großen Projekten. Sie schrieb literaturtheoretische Essays, die noch auf eine Analyse an deutschen Universitäten warten, Kritiken, die Biographie Roger Frys, eines befreundeten Malers, und - eine Komödie. Sie kaufte zusammen mit ihrem Mann, Leonard Woolf, eine Druckerpresse und gründete die "Hogarth-Press", in der sie Eliot, Katherine Mansfield und viele andere junge Schriftsteller/innen zum Teil erst-publizierten und so bekanntmachten. Daneben druckten sie ihre eigenen Werke, die der Freunde, und zahlreiche Broschüren und Flugblätter der Linken. Virginia arbeitete als Lektorin, Setzerin und Packerin. Zwischendurch beklagte sie, daß sie vor lauter Manuskripte lesen und setzen selbst keine mehr schriebe, doch das hinderte sie nicht daran, weiterzumachen. Sie begleitete Leonard Woolf zu Kongressen der Labour Party, auf denen er Reden hielt oder Diskussionen leitete, und sie arbeitete immer wieder für verschiedene Arbeiterbildungs- und Frauenrechts-Vereine.

Außerdem schrieb sie ununterbrochen Kritiken für "The Times Literary Supplement", zwischendurch auch für den "Observer". Die aktive Pazifistin beteiligte sich 1914 und 1933 an mehreren Strategie-Diskussionen zwischen Pazifisten und Kommunisten. Als Literaturtheoretikerin hielt sie Vorlesungen in Cambridge, als aktive Feministin lehnte sie drei Ehrendoktorate ab: Sie wollte den Titel nicht tragen, den zu erlangen für ihre Brüder selbstverständlich, ihr und ihren Schwestern aber ebenso selbstverständlich verwehrt gewesen war. Angesichts der immer noch mangelhaften Ausbildung von Mädchen, der Armut der Frauen-Colleges an den Universitäten und des eingeschränkten Studienrechts für Frauen, wollte sie auf die Ehre eines geschenkten Doktortitels verzichten.
Virginia Woolfs Leben war kompliziert und komplex, es richtete sich nicht nach starren Entwürfen aus. Nur eines stand für sie schon fest, als sie noch ein kleines Mädchen war, und die "Hauszeitung" der Stephens zusammen mit den Geschwistern herausgab: Sie wollte Schriftstellerin werden. Die andere Konstante in ihrem Leben: Der Kampf gegen die Krankheit und die Provokation der Krankheit durch die dauernden Grenzüberschreitungen. Nichts war ihr schrecklicher, als krank, hilflos, ausgeliefert zu sein, ihre größte Angst, als sie das letztemal den Zusammenbruch herannahen glaubte, war, es könnte nun so bleiben, sie würde nicht mehr gesund werden - und dadurch nicht mehr schreiben können. Sie entschied gegen die Abhängigkeit: Sie nahm sich das Leben.

Sinn für Humor

Dieses Leben war nicht von Todessehnsucht und Melancholie gezeichnet. Im Gegenteil, Virginia Woolf war gerade wegen ihres scharfen Witzes und ihres großen Sinns für Humor, ihrer Albernheit und Unkonventionalität ein beliebter Gast in den Londoner Salons. Sie kannte ihre Grenzen, was das tägliche Leben betraf, sie wußte, daß ihr Ruhe, Schlaf und Gleichmäßigkeit gesundheitlich wesentlich besser täten und brachte es dennoch selten übers Herz, auf Gäste oder eine Dinnereinladung zu verzichten. Wenn sie dann zusammenbrach, litt sie tage- und nächtelang unter Schuldgefühlen und verfiel für lange Zeit in die nie völlig überwundene Schüchternheit, unter der sie seit der Kindheit litt. Sie kannte auch die Grenzen ihrer Klassen-Erfahrung und warf den linken Schriftsteller-Kollegen vor, sie seien doch Bürger und glaubten, das Proletariat verstehen zu können.
Auch in England wurde die große Realismus-Diskussion der zwanziger Jahre geführt, in der es unter anderem um die Frage ging, ob im literarischen Kunstwerk nicht der Inhalt und seine lebensgetreue, realistische Darstellung Vorrang haben sollte vor der Auseinandersetzung mit Sprache, Form. Virginia Woolf entschied sich gegen den "Realismus" und für die Thematisierung von Emotionen, Reflexionen, sinnlichen Erfahrungen, Träumen und Gedankenströmen in der Literatur. Sie selbst emanzipierte die Form zu höchster Vollendung, ihre Werke sind Exempel für konkret gewordene Einlösung ihrer literarischen Ansprüche.

Trotz ihrer theoretischen Sicherheit und Entschiedenheit hing sie emotional extrem ab von den Urteilen ihrer Kritiker, die Zeitspannen zwischen Erscheinen des Werkes und Erscheinen der ersten Rezensionen drohten sie stets wieder in die Krise zu stürzen.

Daß es nicht häufiger zu Zusammenbrüchen kam, verdankte sie nicht nur ihren eigenen Kämpfen, sondern auch Leonard Woolf. Er hatte während ihres ersten schweren Schubes, gleich nach der Heirat, entschieden, sie nicht in eine Anstalt einweisen zu lassen, sondern selbst die Pflege zu übernehmen. Notfalls ein Leben lang, denn das war die Perspektive, die die Ärzte durchblicken ließen. Leonard Woolf übernahm die Aufgaben, die normalervveise Dichtergattinnen zufallen: die Sorge um die Gesundheit, Ungestörtheit und Seelenruhe des Genies. Er hatte die dreißigjährige Virginia geheiratet mit dem Wissen, sie womöglich nie sexuell berühren zu dürfen. Sie hatte ihm in mehreren Gesprächen und Briefen zu vermitteln versucht, daß sie ihn sexuell nicht anziehend fand, sowenig wie irgendeinen Mann, daß sie ihn aber so sehr liebe und achte, um mit ihm zusammenleben zu wollen. Leonard hatte akzeptiert. Virginia war das Risiko eingegangen - kurz nach der Hochzeit "überfiel" sie der bisher schwerste und langwierigste psychische Zusammenbruch. Leonard war ihr nach der Heirat Vanessas und dem Tod ihres Lieblingsbruders Toby, einem Freund Leonards, wohl tatsächlich der wichtigste und liebste Mensch der Welt, mit Ausnahme vielleicht Vita Sackville Wests, die sie erst Jahre nach ihrer Hochzeit kennenlernte.

Keine Klischees

Virginia wußte, was sie Leonard zu verdanken hatte, und sie dankte ihm dafür in ihrem Abschiedbrief: "Liebster, ich spüre genau, daß ich wieder wahnsinnig werde. Ich glaube, daß wir eine solche schreckliche Zeit nicht noch einmal durchmachen können. Und diesmal werde ich nicht wieder gesund werden. Du bist unglaublich geduldig mit mir und unglaublich gut zu mir gewesen. Das möchte ich sagen - jeder weiß es. Hätte mich jemand retten können, wärst du es gewesen."

Wir brauchen keine feuilletonistischen Leichenfleddereien und Zitaten-Bombardements, um die komplexen Qualitäten und Aspekte einer historischen Frau zu erkennen. Verspätete Zu- und Abschreibungsversuche à la ,,Zeit-magazin" nach dem Motto "Virginia Woolf gehört Euch nicht, laßt bloß die Finger von dem Genie, das wir so lange verstauben ließen", diskreditieren in erster Linie ihre Verfasser/innen.

Es ist auch Aufgabe von Feministinnen, sich für Virginia Woolfs Biographie ohne jede Borniertheit und Besserwisserei, Etikettierung und Dogmatismus zu interessieren. Die Suche nach unseren "großen Schwestern" erfordert vor allem anderen Genauigkeit und Respekt. Genauigkeit in der Spurensuche nach Zusammenhängen und Widersprüchen, Respekt vor der Individualität der Person. Lassen wir dies außer acht, werden auch wir seichte Klischees produzieren, Identifikationsvorlagen für selbstmitleidige Larmoyanz oder - die Gefahr besteht allerdings zu wesentlich geringerem Teil - unglaubwürdig glatte Heroinen.
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