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"Erst danach merkte ich, was in mir steckt!"

Verfasst von: Siebenschön, Leona
in: EMMA
1978 , Heft: 5 , 22-27 S.

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Einrichtung: FrauenMediaTurm | Köln
Signatur: Z-Ü107:1978-5-a
Formatangabe: Bericht
Link: Volltext
Verfasst von: Siebenschön, Leona
In: EMMA
Jahr: 1978
Heft: 5
ISSN: 0721-9741
Sprache: Nicht einzuordnen
Beschreibung:
"Erst danach merkte ich, was in mir steckt!"

Scheidung: heute sind es zu 75 Prozent die Frauen, die ihre Ehe gelöst haben wollen. Auch wenn sie keinerlei Sicherheit für die Zeit danach haben. In Wilhelmsburg hat sich eine Gruppe geschiedener Frauen zusammengetan. Sie helfen sich gegenseitig.

Reden, als sei ein Damm gebrochen. Gespräch in Wilhelmsburg, dem Hamburger Arbeiterviertel an der Elbe. Ausgestorbene Straßen schon abends um acht. Mietskasernen, und in einer der Wohnungen der Frauentreff: parterre, billig und bunt, selbst finanziert von den Frauen. Lachen und Stimmengewirr. Jede hat das Herz übervoll. Wie das war. als sie ging, erzählt Marion - jetzt lacht sie darüber. Das, was danach kam, verschlägt Helga noch heute die Sprache, wenn sie daran denkt: ,,Zwei Jahre ganz allein mit den Kindern . . ." Keine Sekunde bereut Irma den Ausbruch nach 20 Jahren Pflichtbewußtsein: "Sonst hätte ich nie erfahren, wer ich selbst eigentlich bin. Denn in der Ehe, da habe ich ja nur funktioniert, habe es allen recht gemacht, immer alles tiptop - nur ich selbst blieb dabei auf der Strecke." Und Ina nickt: "Befreiend war die Scheidung auch für mich. Aber auch unheimlich schwierig. Was hab' ich für 'ne Angst gehabt . . ." Die "Freien Frauen"

Sie müssen es loswerden. Immer das eine Thema, immer das gleiche Problem: in Trennung, Scheidung oder schon geschieden lebend, weil sie es wollten. Und die Männer? Die sind wie vor den Kopf geschlagen. Scheidung, von der Frau gewollt, ist auch für die Frauen selbst noch immer ein ungeheurer Schritt. Sie glauben, sich rechtfertigen zu müssen, suchen Zuspruch. Frauen zwischen 25 und 50 haben sich zusammengetan, treffen sich seit November 77 einmal in der Woche. Erfahrungsaustausch. Bestätigung. Die, die es hinter sich haben, können am besten verstehen, was denen Angst macht, die es noch vor sich haben. Keine Angst. Du wirst es packen, ich habe es auch geschafft.

..Danach habe ich überhaupt erst gemerkt, was in mir steckt", sagt Irma, die von Sozialhilfe lebt, wie fast alle der Wilhelmsburger Gruppe. Vor der Ehe war sie Näherin.-jetzt sucht sie vergeblich eine Stelle. Früher, mit dem Mann, konnte sie oft verreisen, jetzt lebt sie vom Existenzminimum: "Wir leben sparsam, aber das haut mich nicht um. Ich bin sicher geworden. Trotzdem -und die Gruppe bestärkt mich darin."

Das einzige, was ihnen blieb, sind ihre Kinder. Besitz hatten sie gar nicht erst, oder aber sie ließen ihn reuevoll zurück - wegen des schlechten Gewissens: weil sie gingen.

Dann wirklich allein zu sein mit den Sorgen, den Fragen, Angst, ohne Geld, Papierkrieg, Behördenlauferei - das hat sie zusammengebracht. So fing die Gruppe an, letztes Jahr im November, als "Gruppe geschiedener Frauen". Aber so wollten sie nicht genannt sein, nicht wieder die Definierung als "seine" Frau - und sei es auch nur als seine ehemalige Frau. Also nannten sie sich um in "die Freien Frauen" - ein Name voller Hoffnung, der ein ganzes Programm beinhaltet. Daß die meisten Ehen auf Antrag der Frau geschieden werden, ist bekannt. Daß "immer mehr Frauen es satt haben, sich mit einer miesen Ehe abzufinden", so ein Soziologen-Befund, auch. Tun beruflich Erfolgreiche, sozial Privilegierte diesen Schritt, der schwierig ist in jedem Fall, dann fallen sie immerhin auf die eigenen Beine und nicht zunächst ins Bodenlose wie Ungelernte, Arbeitslose, Sprachlose. Daß dennoch auch Frauen ohne eigenes Einkommen, oft nicht wissend, wovon morgen die Miete gezahlt werden soll, den Schritt aus der Ehe wagen und schaffen - das hat mich, ehrlich gesagt, überrascht. Und noch etwas hat mich überrascht: Ob Ärztin oder Arbeiterin, ob gut verdienend oder mittellos, alle werden heimgesucht von den gleichen Beklemmungen. Dieser Alptraum, allein nicht durchzukommen, zu versagen vor den Folgen. Erst dann begreifst du, wie sehr die Ehe dich geschwächt hat. Und dann, nach dem Schritt? Ich fühle mich wie erlöst . . . Ich fühle mich richtig befreit. . . Als wäre ich ein neuer Mensch ... In Variationen, die immer gleiche Antwort auf die Frage, was es bedeutet für eine Frau, geschieden zu sein. Auch, wenn es mit materiellen Opfern verbunden ist. "Ich habe mit allem Schluß gemacht", sagt Manon, 32, elf Jahre lang Luxus-Frau eines Managers, Liebling der Society. Auch das kann Zwang sein. "Ich war nur eines: furchtbar schön. Jetzt muß ich ganz unten anfangen, rauskriegen, wer ich überhaupt bin, was ich überhaupt will."

In der genau gegensätzlichen Situation war Sofia, 42, drei minderjährige Kinder, bislang Hausfrau, keinen Beruf, kein Geld. Der Vater zahlt (bis jetzt) nichts: "Ich habe den Ehering vom Finger gezogen und mir gesagt: Meine Liebe, das wirst du auch noch schaffen - selbst wenn ich noch nicht wußte, wie." Woher sie den Mut nahm? "Die Zeit, das liegt in der Luft, guck dich doch um, was Frauen alles können. Das steckt an." Noch vor sieben, acht Jahren hätte sie diesen Mut nicht gehabt; da hätte sie dreimal geschluckt und sich abgefunden. "Aber die Frauen haben sich verändert und das färbt ab."

"Das steckt an!"

Das Beispiel einer einzigen Frau, die ihre Scheidung durchsetzt und mit allem fertig wird, kann unter den weiblichen Bekannten eine wahre Kettenreaktion auslösen."Das geht manchmal reihum wie ein Virus", erzählt der Hamburger Rechtsanwalt Enno Dekker, der in Scheidungsverfahren überwiegend die weibliche Partei vertritt: "Wenn erst eine Frau die Initiative ergriffen hat, kommen danach vielleicht drei, vier ihrer Freundinnen; sie brauchten nur diesen Anstoß." Und bereits 1975 stellte die Soziologin Ruth Höh, die die Situation geschiedener Frauen in der ganzen Bundesrepublik untersucht hat, fest "Immer mehr Frauen machen da nicht mehr mit."

Scheidung nicht als Scheitern, sondern als Befreiung. Nur jede achte von Ruth Höh befragte Frau beurteilte das Ende der Ehe als "die Katastrophe meines Lebens". Jede dritte als eine "unerfreuliche Erfahrung", die aber zu verarbeiten sei. Jede zweite als "den Weg zu sich selbst". Vorbei ein Zustand, der für zwei von drei der befragten Frauen uner- aber eine offene Beziehung zu einem Mann - wenn sich der richtige findet."

An der Hoffnung auf diesen anonymen Richtigen halten die meisten, wenn auch nicht alle geschiedenen Frauen fest. Gleichzeitig wissen sie, "daß jede Beziehung zum Mann immer auch Anpassung, Unterordnung, Einengung meiner selbst mit sich bringt, sonst läuft es ja nicht", wie Erika, 45, es sagt. "Ich habe mich entschlossen, zu leben als Frau", sagt Erika heute, "mein Recht, meine Verantwortung, meine Freiheit. Das will ich mir nie mehr nehmen lassen." Trotz größter Anstrengungen im Alltag und oft deprimierender Schwierigkeiten im Leben fühlt sie sich glücklich. Tochter und Sohn, beide 22, "erfüllen mein Leben, und da ist mein Beruf und da sind tausend schöne Dinge, die ich noch wissen, entdecken, erleben möchte. Seit der Scheidung bin ich wirklich frei für alles." Symbolische Geste: Sie trägt wieder ihren Mädchennamen.

Wieder frei für alles

Daß so viele geschiedene Frauen letztlich doch nicht allein bleiben wollen, daß ein Leben ohne Mann ihnen leer erscheint, kann Erika nicht begreifen, ja, sie ist sogar erbost darüber: "Die Frau, die ihr Leben führen will", sagt sie, "hat es um so schwerer, je mehr andere Frauen vom Mann abhängig bleiben." Doch ist es eine Realität, daß sich für die geschiedenen Frauen das Problem, durch Scheidung die gesellschaftlich einzig akzeptierte Identität "Ehefrau" zu verlieren, und so als "halber Mensch" vegetieren zu müssen, in aller Schärfe stellt. Eine "gelungene Emanzipation" müsse deshalb vor allem heißen, so Ruth Höh "diese Art der Unvollkommenheit zu überwinden, ein Selbstwertgefühl zu entwickeln und sich entsprechend zu verhalten."

Den Weg aus der Sackgasse heraus zu sich selbst finden, kann freilich nicht für alle nach gleichem Kurs verlaufen. Petra Ewe, Anwältin in Hamburg, die mit ihren Mandantinnen auch nach dem Verfahren in Kontakt bleibt, ihnen hilft in ungewohnten Amtsangelegenheiten und auch bei psychologischen Problemen, erklärt: "Mit dem Entschluß zur Trennung, meist nach langem Ringen, ist bereits eine wesentliche Hürde überwunden, nämlich Selbstzweifel und Angst vor der losgerollten Lawine, Angst auch vor der Reaktion des Mannes, der Kinder, der Umwelt. Überwundene Ängste und überstandenes Verfahren bewirken dann in der Tat das Gefühl, erlöst zu sein, befreit, ermutigt zu bislang ungenutzten Fähigkeiten. Diese Erfahrung stärkt; spornt an, brachliegende Möglichkeiten anzupacken, aktiv zu werden, sich zu befreien von Behinderungen, auch Vorurteilen und Komplexen. Wobei das Gespräch in der Gruppe, unter Gleichgesinnten ganz entscheidend hilft, sich selbst freizusprechen von unberechtigten Schuldvorwürfen. "Und in jedem Fall", sagt Petra, "entdeckt die Frau, daß sie viel mehr kann und schafft, als sie je in der Ehe geglaubt hätte. Es stimmt: Sie ist wirklich ein neuer Mensch geworden."

Dieser Antrieb und nicht nur die Notwendigkeit, sich eine Existenz aufbauen zu müssen, führt zu den erstaunlichsten Leistungen, gerade auch wenn sie nicht mehr die Jüngsten sind. Wie etwa bei Ina, 40, erste Heirat mit 19, jetzt zum zweitenmal geschieden, zwei Söhne (18, 14). Sie hat auf dem zweiten Bildungsweg angefangen zu studieren, Politik und Wirtschaft, denn sie will "etwas tun, was diese Welt vielleicht verbessert". Den halben Menschen zum ganzen' machen - diese Herausforderung wurde mir immer wieder geschildert. "Zuerst hatte ich Angst davor. Die Prüfung meines Lebens." Sich selbst entdecken und sich selbst bestätigen durch Fähigkeiten, die verschüttet waren oder fast verkümmert wären. Sich selbst frei schaufeln wie Irma. Zu sich selbst kommen wie Helga oder Ina. Die Frauen der Wilhelmsburger -Gruppe, einander bestärkend und unterstützend, stimmen darin überein, jede auf ihre Art. Und in einem sind sie sich auch einig: "Ohne die Gruppe hätten wir es nicht geschafft!"

LEONA SIEBENSCHÖN
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