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Dora stellt eine Stunde ihre Welt auf den Kopf und spürt erstmals das eigene Leben

in: EMMA
1977 , Heft: 1/2 , 19 S.
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Einrichtung: FrauenMediaTurm | Köln
Signatur: Z-Ü107:1977-1-a
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Verfasst von: Morgner, Irmtraud info
In: EMMA
Jahr: 1977
Heft: 1/2
ISSN: 0721-9741
Sprache: Nicht einzuordnen
Beschreibung:
Doras Großeltern Selma und Clemens hatten einen Schrebergarten. Bis 1938, dann wurde das Gelände der Gartenkolonie »Wohlfahrt« für einen Exerzierplatz gebraucht. Dem Großvater erschien der Garten als Ort der Plackerei, der Großmutter als Lebensinhalt. Sie bewirtschaftete den Garten wie eine Plantage. Da wenig Boden zur Verfügung stand, wurde er in drei Etagen genutzt. Die unterste war dem Gemüse vorbehalten, die mittlere Sträuchern, Klettergurken, Kürbissen und Stangenbohnen, die obere den Obstbäumen. Selma Uhlig hatte nur hochstämmige Obstbäume in ihrem Garten. Nützlichkeit erschien Selma als höchste Tugend. Für Blumen war da kein Platz. »Blumen«, pflegte sie in einem Ton zu sagen, als ob sie von Unkraut spräche, »Blumen tun bloß die Stub ausstänkern.«

Clemens hatte Selma zum Geburtstag Seife zu schenken. Dora schenkte Müffel. Großmutter Selma brauchte verschiedene Müffel für verschiedene Gelegenheiten: Küchenmüffel, Pilzmüffel, Reisigmüffel, Bettmüffel, Sonntagsmüffel und natürlich Gartenmüffel. Denn Selma arbeitete auch im Garten, wenn Rheuma ihre Hände plagte. Gerade. Sie schien sich eigentlich nur wohl zu fühlen, wenn Sie sich tüchtig plagen konnte und dazu schimpfen. Ihre Gemütslage gründete auf Unzufriedenheit. Selma Uhlig gehörte nicht zu den wetterwendischen Frauen, die von ihr als »Gewitterziegen« bezeichnet wurden. Auf Selmas schlechte Laune war Verlaß.

Deshalb besuchte Dora ihre Großmutter gern. Das Kind fühlte sich bei ihr sicher vor Stimmungswechseln, die bei Schurichts üblich waren. Großmutter Selmas Charakter ermutigte Dora zu Streichen, da die Folgen geringfügig waren. Ein Wechsel von Schimpfen in heftiges Schimpfen ist geringfügig.

Eines Tages sperrte Dora ihre Großmutter in der Laube ein.

Der Entschluß war nicht vorsätzlich gefaßt. Er überkam Dora plötzlich, herausgefordert durch die Ermahnungen, die die Großmutter ständig vor sich hinredete wie Gebete. Sie konnte nicht wirtschaften, ohne laut vor sich hin zudenken. Gleichgültig ob sie allein war oder nicht. Beim Abschmecken von Speisen beispielsweise pflegte sie der Welt oder niemandem mitzuteilen, daß noch etwas fehle, fragte was, zählte verschiedene Gewürze auf, zog einige in die engere Wahl, entschied sich schließlich - nie zu ihrer Zufriedenheit. An jenem Tage im August suchte Selma in der Laube nach einem bestimmten Rechen, schimpfte darüber, daß sie ihn nicht sofort fand, »Sauwirtschaft« schimpfte sie, »Stinkbud«, denn der Abort war von Großvater Clemens als Innenklosett gebaut worden. Selma beschuldigte den Großvater in seiner Abwesenheit, den Rechen verlegt zu haben. »Verkrancht«, sagte Selma und flocht zwischen dieses Thema Ermahnungen an Dora: »Reiß keine Bohnenblüten ab - paß auf, daß sich keine Wesp auf deine Bemm setzt - laß die Strünk liegen, da wird Äppelbrei draus gekocht - mach kein Summs mit so ner alten Salatschneck - die kleinen Gurken werden nicht weggefressen, die werden eingelegt - reiß dich nicht an den Stachelbeerstöcken - runter vom Zaun, du Saubatzen - latsch mir nicht die Kürbsranken ab - fall nicht ins Wasserloch.«

Wahrscheinlich hatten Dora die Ermahnungen wegen der Kürbisranken herausgefordert: dieser immer wiederkehrende Refrain. Mitten im Refrain schlug Dora die Tür zu. Als die Großmutter gebeugt über den Gartengeräten stand. Dora konnte nur den weiten Rock sehen und die Waden und die Holzpantoffeln. Offenbar nahm die Großmutter zunächst an, der Wind hätte die Tür zugeschlagen. Jedenfalls hörte Dora nur ein Rumpeln und undeutliche Flüche auf die »alte Tür«. Erst als das Gesicht der Großmutter im Türfenster erschien und der Befehl: »Willst du gleich aufsperren. Sauleder eebsches«, dumpf aus der Bude drang, hängte Dora das Schloß vor. Schnell. Sicher. Dora war vier Jahre alt, sie mußte sich auf die Zehen stellen, um das Schloß vorzuhängen, aber es ging mühelos. Wie in Träumen, wo geschwebt wird oder geflogen. Plötzlich war Druck weg, diese Last, die am Aufsteigen hindert. Dora mußte einen Luftsprung machen, als das Schloß hing. Und als die Großmutter mit dem Zeigefingerknöchel gegen die Scheibe zu trommeln begann, mußte sie noch höher springen. Einen Sprungtanz führte sie auf vor der Tür und sang dazu nach eigener Melodie. »Ich, ich«, sang sie. Das schönste Wort, seit die Tür verschlossen war. »Ich lebe«, sang sie, »Ich lebe, ich lehehehehebe«, sprang über Beete und Kürbisranken, balancierte auf dem Zaun, hieb eine Gurke in die Stachelbeersträucher, biß einen Strunk an und hüpfte Takt auf dem Brett, mit dem das Wasserloch abgedeckt war. Da begann die Großmutter mit den Fäusten gegen die Tür zu trommeln. Dora sprang zurück zur Laube und sah die Großmutter wüten wie eine gefangene Hummel. Dora ergötzte der Anblick. Die dumpfen Drohungen und Flüche steigerten ihren Rausch. Als sie sich sattgesehen und - gehört hatte, schwebte sie wieder fort. Der Garten erschien jetzt schon riesig. Dora konnte fliegen und fliegen und kam doch an kein Ende. Die Kürbisse, für die der Großvater hochbeinige Liegen gebaut hatte, waren die Monde der Unendlichkeit. In solchem Licht konnte Dora sogar auf den großen Birnbaum klettern. Und sie blieb auch später, als die schöne Stunde vorüber war, dabei, daß sie im Wipfel des großen Birnbaums gesessen hätte. Keine Schelte konnte sie zum Widerruf bewegen, keine Ohrfeige. Die erste Ohrfeige in dieser Angelegenheit erhielt Dora von ihrem Onkel Arthur. Er kam zufällig vorbei und befreite die Großmutter. Erschöpft vor Angst trat sie aus der Abortluft. Der Garten schrumpfte. Als Selma sah, daß die Enkelin nicht im Wasserloch ertrunken war, kehrten ihre Kräfte zurück. Sie verbrauchte etliche zur Vergeltung. Dora aber blieb ungerührt. Eine Stunde ohne Obrigkeit - das war eine Tracht Prügel wert.
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