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Unsere älteste Leserin

Verfasst von: Wittlich, Angelika
in: EMMA
1977 , Heft: 1/2 , 16-17 S.

Weitere Informationen

Einrichtung: FrauenMediaTurm | Köln
Signatur: Z-Ü107:1977-1-a
Formatangabe: Porträt
Link: Volltext
Verfasst von: Wittlich, Angelika
In: EMMA
Jahr: 1977
Heft: 1/2
ISSN: 0721-9741
Sprache: Nicht einzuordnen
Beschreibung:
Unsere älteste Leserin

Elisabeth Lorenzer. 84 Jahre alt: "Gedacht haben wir das früher auch, aber nie gesagt. Ihr Jungen drückt das aus."

Ich hab doch nur ein schlichtes, dummes Frauenleben. Sie vergeuden mit mir ihre Zeit." Elisabeth Lorenzer*, die das sagt, ist 84 Jahre alt und

- EMMAs älteste Abonnentin. Auf der Fahrt zu ihr rechne ich nach. Geboren ist sie im vorigen Jahrhundert, als die Frauen das Wahlrecht kriegten, war sie 26. Als der Faschismus kam 41. Wir

- die Fotografin und ich - könnten ihre Enkelinnen sein. Wir kommen zu ihr am frühen Nachmittag. Sie lebt in einem Appartement am Rand einer kleinen Stadt, allein. In ihrem Wohnzimmer - viele Bücher. Auch Irmtraud Morgners >Trobadora Beatriz<. Ihr Kommentar: "Ist ja fabelhaft, ein unglaubliches Buch." Daneben

- auf englisch - Zeitschriften aus China. "Seit Mao tot ist, kommen sie nicht mehr regelmäßig." Wir staunen. Sie spricht energisch, hält sich sehr grad, gestikuliert, hinter jedem Satz steht sie mit ihrer ganzen Person. "Oh, die Männer müssen noch viel lernen." Dabei ballt sie die Faust. Und lacht. Auf EMMA kam sie durch den Frauenkalender. Und wie kam sie auf den? "Durchs Radio. Als ich den ersten Kalender in der Hand hatte, dachte ich: Hier ist, weiß Gott, alles drin. Ich hab

* Der Name wurde von der Redaktion geändert. mit den Ohren geschlackert. Gedacht haben wir das früher auch, aber nie gesagt. Ihr Jungen drückt das aus. Ich bin hungrig auf alles, was Fortschritt bringt. Ich interessiere mich seit 1908 für diese Dinge." Ihre Energie macht uns erstmal sprachlos.

Ich frage nach ihrem Leben. "Mein Vater war Offizier. Meine Mutter kam aus einer Familie mit einer alten Kultur. Sie sagte immer, meine Töchter müssen was lernen. Mein Vater starb früh und da hieß es dann durchkommen. Wir konnten zu meiner Jugend Krankenschwester, Lehrerin, Kindergärtnerin werden oder als alte Tante irgendwo billig arbeiten. Die Universität war für Frauen noch verboten." w** -Elisabeth ging auf ein Oberlyzeum. Dann wurde sie Lehrerin in Hessen, wo der Großherzog als einziger in Deutschland die Koedukation erlaubte. "Schon damals wußte ich von der Frauenbewegung. Und dann war ich natürlich in der Wandervogelbewegung. Leiterin für Mädchenwandern in Hessen. Auch das war nicht selbstverständlich. Der >Deutsche Bund< war außer sich, als die ersten Mädchengruppen entstanden." 1917 heiratet Elisabeth. Bald darauf hört sie auf, als Lehrerin zu arbeiten. "Und dann habe ich bei meines Mannes Doktorarbeit helfen dürfen. Denn mein Mann war eigentlich Musiker. Er mußte aber Medizin studieren. Da hat sein Professor zu mir gesagt: >Seien Sie so freundlich und machen Sie die baktereologische Arbeit. Er macht sie nie.< Und das habe ich dann gemacht. Während ich in anderen Umständen war. Krieg war auch noch. Na ja, mein Mann kriegte dann den Doktortitel dafür." Ich sage: "Ist ja nicht zu fassen. Ich weiß, daß Frauen für ihre Männer tippen, daß sie sie manchmal auch ernähren, aber das mit der Doktorarbeit ist mir neu."

"Na, da hätten sie mal mit dem Professor reden müssen. Der meinte, das mit der Baktereologie können sowieso nur Frauen, weil sie sorgsamer sind. Wir müssen uns ja eh um alles kümmern."

"Mein Mann wurde von der Musik aufgefressen. Geld begriff er überhaupt nicht. Wenn wir keins mehr hatten, unterrichtete ich wieder. Ich war immer die Dumme, die alles gemacht hat. Ich dachte, auf die Dauer kann ich das nicht. Ich kann nicht das Geld verdienen, die Doktorarbeit machen und dann hab ich mit ihm auch noch den Kapellmeister erarbeitet . . . Und dann wurde es mir zuviel: Ich sagte mir, er hat jetzt den Kappellmeister, er wird schon durchkommen. Und dann hab ich mich scheiden lassen." * Sie klagte nicht, aber zornig ist sie noch heute. "Der Scheidungsprozeß dauerte zwei Jahre. Das Urteil war 23 Schreibmaschinenseiten lang. Ein Schundroman." Im Urteil war auch festgelegt, daß sie nicht weiter in der progressiven Schule arbeiten durfte. Warum? "Weil der Herr Gemahl nicht wollte, daß sein Kind dort erzogen wurde. Wäre ich dorthin gegangen, hätte man mir meine Tochter genommen. Also hab ich Heimarbeit gemacht. Gehäkelt, gestrickt, gestickt und sonst noch was. Ich kam so auf einen Stundenlohn von ungefähr 15 Pfennig. Ich hatte ja allein für mein Kind zu sorgen. Vom Vater kriegte ich zehn Mark monatlich. Laut Gericht: Unter persönlichen Opfern." Sie macht uns schnell Tee, dazu gibt's eine dicke Torte: "Ganz gesund kann ich ja nicht leben, dann sterbe ich ja nie." Ich frage weiter. Wie war das eigentlich, als die Frauen 1918 das Wahlrecht kriegten-? "Das war ein Aufstand. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie man uns daraufhin überall behandelt hat. Was wollt Ihr denn, was könnt Ihr denn?" Und als die Nazis kamen? Sie zögert etwas. "In der Nazizeit, da dachte jeder nur, hoffentlich kommst du durch. Meine Tochter mußte im BDM sein. Ich war ja Beamtin. Wenn zum Beispiel die Lehrerversammlungen waren, du große Güte, da hab ich ein Abführmittel genommen, damit ich wirklich auf dem Klo saß und meiner Tochter nichts vorlügen mußte. Wie furchtbar das war, mit Frauen als Gebärmaschinen und blonden Frauen und so was, das haben wir nicht gewußt. Jeder von uns war ja beschäftigt mit seinem kleinen Krämchen ... Ja, hätten wir alle geschrien."

Und im Krieg? "Da haben die Frauen alles gemacht. Ich war in Frankfurt, der ganze Hauptbahnhof wurde von Frauen geleitet. Als der Krieg vorbei war, wurden wir wieder rausgesetzt."

Und immer wieder sagt sie: "Vergessen Sie nicht, wie sich schon alles geändert hat." und: "Na ja, heute haben wir ja die Partnerschaft. Mal sehen, was das wird."

Ich bin bei diesem Gespräch aus dem Staunen nicht rausgekommen. Für sie ist selbstverständlich, was heute unter uns Frauen als ganz neu und fortschrittlich diskutiert wird. "Es ist doch eine Schande, warum sind denn alle Krankenhäuser unter Ärzten. Ich kann als Frau doch nur zu einer Ärztin gehen. Eine Frau kennt meinen Körper, ein Mann nicht. Was ein Arzt mir verordnet, das sagt er nur aus der Theorie, nicht aus der eigenen Erfahrung." Gleichzeitig betont sie: "Ich bin nicht der Meinung, daß man die Männer alle totschlagen muß. Sie müssen nur auf das ihnen gebührende Maß zurückgeschnitten werden. Sie haben allein einen Staat aufgebaut und der taugt nichts. Es kommt doch immer nur das Männliche raus, es ist zum Verrücktwerden. Daß nun drei Frauen in die Regierung kommen, mich freuts. Aber es sind zu wenige."

Fünf Stunden waren wir - die Fotografin und ich - bei Elisabeth Lorenzer. Zum Abschied kriegen wir Weihnachtssterne und Proviant für unsere Fahrt. "Ich könnte ja Ihre Großmutter sein." Stimmt. Aber sie mußte mich dran erinnern, damit ich's noch merke.

ANGELIKA WITTLICH
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