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Einrichtung: FrauenMediaTurm | Köln
Signatur: Z-Ü107:2001-3-a
Formatangabe: Porträt
Link: Volltext
Verfasst von: Dünnebier, Anna info ; Scheu, Ursula
In: EMMA
Jahr: 2001
Heft: 3
Beschreibung: Ill.
ISSN: 0721-9741
Sprache: Nicht einzuordnen
Beschreibung:
Anita Augspurg Das Frl. Dr. jur. und die Liebe
Um die Jahrhundertwende war sie eine der bekanntesten Frauen des Kaiserreiches. Und zwischen den beiden Weltkriegen wurde sie politisch nicht minder angefeindet als Rosa Luxemburg: Anita Augspurg, die schillerndste und radikalste, aber auch die umstrittenste Pionierin unter den Frauenrechtlerinnen.

Man denkt, man wäre im falschen Jahrhundert. So sehr ähnelt das, was sich damals in den 1890ern ereignete, den 1970er Jahren. So sehr gleicht die Ikone der damaligen Frauenbewegung derjenigen von heute. Und auf atemberaubende Weise ähnlich war auch die Reaktion der Presse, der Wissenschaft und der Politik: dieselbe Häme, dieselbe Herablassung und Schläge unter die Gürtellinie. Alles schon da gewesen.
Die Rede ist von Anita Augspurg, die seit den 1880er Jahren als kämpferische Feministin im deutschen Kaiserreich für Unruhe sorgte. Ihre Themen: Gleichberechtigung, gleicher Lohn für Mann und Frau, sexuelle Selbstbestimmung, Eheboykott, § 218, Vergewaltigung, Frauen-Wahlrecht. Mindestens so schockierend wie ihre politischen Inhalte war für die Umwelt die Form, wie diese Frau auftrat und lebte. Zu Zeiten von Schnürkorsett und Wespentaille trug sie lose hängende Reformkleider oder gar Hosen, die Haare kurzgeschnitten; sie ritt im Herrensitz und radelte, rauchte, trank gern mal ein Glas Sekt oder Burgunder und diskutierte leidenschaftlich gern.
Augspurg arbeitete zunächst ein paar Jahre lang als Schauspielerin, gründete dann ein erfolgreiches Foto-Atelier und wurde später die erste Juristin Deutschlands - und das alles zu einer Zeit, als es für Frauen weder das Recht auf Abitur oder Studium noch qualifizierte Berufe gab; als die Frauen der unteren Klassen zu schuften und die oberen zu heiraten hatten.
Ungeniert und vor aller Augen lebte Anita auch ihre Liebe zu Frauen, was selbst in der Münchener Boheme der 80er und 90er Jahre Anlass für Klatsch und Tratsch war. Ihre Freundin Sophia Goudstikker, auch
Partnerin im Fotoatelier, war wie Augspurg ein androgynes Geschöpf voll Energie und Lebensfreude. Romancier Ernst von Wolzogen über das skandalumwitterte Paar: "Das sind Neutra mit den äußeren Kennzeichen der Weiblichkeit, die sich durch krampfhafte Anstrengungen ihr weibliches Empfinden abgewöhnt und dafür so eine Art verkrüppelter Manns-Psyche eingetauscht haben." Und Franziska von Reventlow, die gern mit Augspurg nackt in der Isar badete und selbst Teil der Münchener Boheme war, punktete bei den Männern, indem sie spottete: Jüngst sei bei einer Frauenversammlung "die Frage aufgeworfen worden, ob Männer überhaupt noch zum Geschlechtsgenuss zugelassen werden sollten. Mit einer Stimme Majorität wurde die Frage 'für diesmal noch' bejaht."
Wenn Augspurg in der Münchener "Gesellschaft für Fraueninteressen" mit ihrer vollen, tiefen Stimme über Bildung redete, dann war der Saal gestopft voll und saß immer auch ein Kommissar der politischen Polizei im Publikum und notierte eifrig mit. Und es mokierte sich das ge-bildete Bürgertum, wie etwa ein junger Dichter aus Lübeck namens Thomas Mann, der später die Enkelin der damals berühmten Feministin Hed-wig Dohm hei-raten sollte: "Ich eines Parlamentariers: "Die Damen sind nicht zufrieden. Kein Jurist war zu finden, der mit ihren Ansichten einverstanden gewesen wäre; (Heiterkeit) darum haben die Damen selbst gearbeitet - für uns umso wertvoller! Denn daraus sehen wir, dass, obgleich die Frau vom Rechte gar nichts verstehen kann und deshalb das Privilegium des Rechtsirrtums besitzt, die Damen unseren Entwurf verstanden haben (große Heiterkeit) - mehr kann man nicht verlangen."
Die große Heiterkeit setzte sich fön in dieser Debatte darüber, unter welchem Gesetz mehr als die Hälfte der deutschen Bevölkerung in Zukunft leben sollte. Diskussionsbeiträge im Stil von "Ein Küsschen in Ehren" trugen zur Stimmung bei. Alle Einwürfe der Frauen wurden mit Mehrheit abgeschmettert.
Immerhin sprach und stimmte eine Minderheit für die Frauen: die Sozialdemokraten und ein Teil der Liberalen. Auch die liberale Presse war auf ihrer Seite. "Der Vortrag von Frl. Augspurg stach durch juristische Schärfe und Klarheit, insbesondere auch durch ruhige Objektivität ab", kommentierten die "Münchener Neusten Nachrichten" eine Veranstaltung in Berlin, in der Augspurg gegen die geplante Reform argumentierte.
Vollends flippten die Männer des Kaiserreichs aus, als sich Augspurg an das heißeste
Thema zwischen Männern und Frauen wagte: die sexuelle Ausbeutung. Augspurg war inzwischen nach Berlin gezogen, wo sie als Journalistin arbeitete. Nach einem heftigen Flirt mit der verwitweten Minna Cauer, einer der führenden Frauenrechtlerinnen, und einer kurzen Liebschaft mit der Nachwuchs-feministin Katharina Erdmann traf die viel-umschwärmte Augspurg die Frau, mit der sie bis zum Tod zusammen leben und arbeiten würde: Lida Gustava Heymann. Die Patriziertochter Heymann hatte mit ihrer Erbschaft in Hamburg ein Frauenhaus gegründet, wo sie den Ärmsten mit Rat und Hilfe zur Seite stand: Verlassenen Ehefrauen, unehelichen Müttern, Arbeitslosen - und der Sorte Frauen, von denen Bürgertöchter eigentlich gar nichts wissen sollten, den Prostituierten.
Von nun an lebten und agitierten Augspurg und Heymann zusammen und schreckten vor nichts zurück, noch nicht einmal vor dem Tabuthema Prostitution. Prostitution war verboten - bestraft aber wurden nur die Frauen, nicht ihre Freier, noch die Zuhälter. Nur wenn die Frauen sich registrieren ließen, in Sperrbezirke oder staatlich kontrollierte Bordelle einweisen und vom Polizeiarzt zwangsuntersuchen, blieben sie straffrei - und dann kassierte der Staat. In Hamburg zum Beispiel hatte jede Prostituierte wöchentlich zwölf Mark als "Arztabgabe" an die Polizei zu zahlen. So viel verdiente ein Dienstmädchen im ganzen Monat. Die beiden geißelten öffentlich diese doppelte Moral und erklärten: "Es gibt nur eine Moral für Mann und Frau".
Und das kämpferische Duo ging noch weiter. Sie analysierten schon vor fast hundert Jahren: In der Tatsache, dass Männer mit öffentlicher Billigung Frauen als Ware ansehen dürften, liege der Grund für die Frauenverachtung aller Männer begraben. Und da waren sie auch schon bei der Ehe. Die Konventionalehe sei unmoralisch, erklärten sie. Konventionalehen waren die Ehen, die aus Gründen von Familieninteressen, Vermögen, Geschäft geschlossen wurden, also damals so gut wie alle Ehen! Kein Wunder, dass Anita Augspurg zur umstrit-tensten Frau Deutschlands wurde.
1905 forderten sie öffentlich zum Eheboykott auf. "Für eine Frau von Selbstachtung, welche die gesetzlichen Wirkungen der bürgerlichen Eheschließung kennt, ist es
habe einmal in München einer Frauenver-sammlung beigewohnt, auf mein Wort, ich bin hingegangen. Auf der Tagesordnung stand die Frage: 'Können Frauen philoso-phieren?' Es war ein wild bewegter Abend; sogar ein Universitätsprofessor griff ein, und das Ergebnis war die sieghafte Bejahung der Frage, ob Frauen philosophieren können. Ein bleicher und leidenschaftlicher Herr, der sich aufstellte und das Resultat aus gewissen Gründen anzweifeln zu müssen glaubte, ward niedergemacht."
Augspurg, die Tochter eines Juristen, studierte in Zürich Jura, gleichzeitig mit Luxemburg. Doch Anita machte ihren Doktor noch schneller als Rosa. Als Juristin mischte sie sich von nun an in die Debatte um ein neues Familienrecht ein - nach dem geltenden hatte der Ehemann alle Macht, die durch die Eheschließung entmündigte Frau musste gehorchen. Augspurgs Gegenvorschläge zur geplanten halbherzigen Reform gingen als Petition mit vielen tausend Unterschriften an den Reichstag. Kommentar nach meiner Überzeugung unmöglich, eine legitime Heirat einzugehen: ihr Selbsterhal-tungstrieb, ihre Achtung vor sich selbst und ihr Anspruch auf die Achtung ihres Mannes lässt ihr nur die Möglichkeit einer freien Ehe offen" (also des Zusammenlebens ohne Heirat). Ein Aufschrei ging durch die Presse: "Frl. Dr. Anita Augspurg macht nicht den Eindruck, als ob sie schon ein Mann durch das unwürdige Ansinnen einer legitimen Heirat auf die Probe gestellt hätte", oder: "Frau Anita spricht wie der Blinde von der Farbe. Gott Amor liebt nun einmal nicht die Frauen mit geschorenem Haar und mit der Nase des Cyrano von Bergerac." Soweit die Provinzpresse. In der Hauptstadt klang es noch drohender: "Es wird hohe Zeit, daß dieser das Volksleben vergiftenden Moral emanzipierter Frauen mit allen Mitteln entgegengetreten" wird, forderte der "Tag". Und die liberale "Frankfurter Zeitung", sonst oft auf Seite der Radikalen, hielt es für angebracht, "eine Warnung aussprechen" zu müssen, um "die Frauenbewegung und den Fort-schritt überhaupt vor Schaden zu bewahren."
Anita Augspurg kämpfte an allen Fron-ten, forderte mehr Schutz gegen Belästigung und Vergewaltigung durch Vorgesetzte, mehr Rechte für uneheliche Mütter, protestierte gegen die Vergewaltigung von "farbigen" Frauen in den Kolonien, kämpfte gegen den Mädchenhandel, gegen den § 218, gegen Sondergesetze für Prostituierte. Sie schrieb Artikel, berief Versammlungen ein, initiierte Resolutionen und machte Eingaben ans Parlament. Kurzum, sie machte mit spektakulären Aktionen in ganz Deutschland von sich reden.
Im Oktober 1902 ließ sie sich sogar am Bahnhof von Weimar als Prostituierte verhaften. Wie das? Ganz einfach. Frau brauchte nur etwas langsamer zu gehen, stehen zu
bleiben, sich mit der Hand durchs Haar zu streichen... Und schon griff die Polizei ein, wegen "unerlaubter Prostitution"! Denn die anständigen Frauen hatten zu Hause zu sein und nicht auf der Straße.
So manche Frau war schon bei einem harmlosen Spaziergang oder beim Heimweg von der Arbeit auf diese Weise verhaftet, zur Wache geschleppt, zwangsweise auf Geschlechtskrankheiten untersucht worden. Und nun hatte es ausgerechnet Deutschlands bekannteste Frauenrechtlerin getroffen. Der Fall ging zum Polizeipräsidenten, zur Landes-regierung, durch die Presse, überall fanden Frauenversatnmlungen, öffentliche Anhö-rungen statt. Endlich debattierte auch der Reichstag dieses schändliche Gesetz. Aktionen wirkten eben schon damals nachhaltiger als Eingaben oder Artikel. Das hatten Augspurg und Heymann von den englischen Suffragetten gelernt. Die Frauenbewegungen arbeiteten damals innerhalb Europas und mit Amerika eng zusammen. Auch zu den deutschen Kongressen kamen stets Emanzen aus aller Welt. Und Augspurg und Heymann reisten mehrmals im Jahr nach London, Paris, Budapest, Kopenhagen, Amsterdam, Chicago oder Wien, diskutierten, sprachen Ziele und Strategien ab.
Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts standen die Aktionen der Suffragetten im Mittelpunkt. Sie stürmten das englische Parlament, entrollten ihre Transparente auf Wahlversammlungen, brachten Minister durch Zwischenrufe in Verlegenheit und zogen zu Hundert-tausenden in Demonstrationszügen durch London. Ganz so
spektakulär ging es in Deutschland nicht zu. Bis Augspurg die erste deutsche Frauendemo organisierte! Für das Wahlrecht zogen in München einige hundert Frauen in zwei-spännigen Kutschen durch die Stadt, mit Fahnen und Transparenten. Und zur Reichstagswahl 1912 organisierte die Frauenrechtlerin gar ein Go-In in die Wahllokale. Die forderten dort ihre Stimmzettel. Jeder Deutsche, so die Verfassung, sei stimmberechtigt -sind Frauen etwa keine Deutschen?
Da fühlte sich der Kaiser höchstpersönlich aufgerufen, seinen Untertaninnen zuzurufen, dass "die Hauptaufgabe der deutschen Frau nicht in dem Erreichen von vermeintlichen Rechten liegt, in denen sie es den Männern gleichtun können, sondern in der stillen Arbeit im Hause und in der Familie". Und aus Rom sekundierte ihm der Papst und "warnte die Damen vor den Gefahren der Frauenbewegung und Emanzipation. Frauen, die an der Gesetzgebung teilnehmen wollten, hätten ihren Beruf verfehlt".
Doch nicht nur die Männer hatten etwas gegen Stimmrechtlerinnen. Augspurg und Heymann wurden aus allen Richtungen auch von Frauen attackiert. Die Sozialistin Clara Zetkin fand, "dass diese Damen nicht in erster Linie Frauen- sondern Damenwahlrecht verfolgen; sie kämpfen nicht für die politische Emanzipation des weiblichen Geschlechts überhaupt, sondern als Vertreterin- nen der bürgerlichen Klasseninteressen". Auch die "Gemäßigten" der Frauenbewegung, Helene Lange und Gertrud Bäumer, versuchten zu bremsen. Augspurg sei halt die Frau "mit dem schallenden Wort, der schellenlauten Phrase". Doch es sei noch zu früh, erst müssten sich die Frauen in sozialer Arbeit "bewähren", dann erst dürften sie als Krönung das Wahlrecht fordern. Frauensolidarität...
Da hatten es die Männer leicht, sich auf die "Natur der Frau" zu berufen: "Teilnahme am öffentlichen Leben ist ein Ziel, dass die Natur dem Weibe versagt hat", oder: "Die Hausfrau taugt nicht zum Parlamentsweibe".
Und ein Mitglied des eigens gegründeten "Bundes gegen die Frauenemanzipation" argumentierte forsch: Die "Bewegungs-weiber sind nicht in der Lage, ihre Kinder in einem bewusst nationalen Geist zu erziehen. Mit wenigen Ausnahmen gehören hier wie dort (Anm.d.A.: bei Frauenrechtlerinnen wie bei Sozialistinnen) die Führerinnen der jüdischen Rasse an, und auch das ist sehr bezeichnend, denn für jene
liegt ja die internationale Idee im Blut".
Vaterlandslos, sozialistisch, jüdisch. Das müssten die Nazis später gar nicht erfinden. Anita Augspurg hat sich übrigens nie öffentlich davon distanziert, eine "Sozialistin" oder "Jüdin" zu sein - nur sie war keins von beiden. Dafür kämpfte sie schon früh mit Flugblättern und Artikeln gegen die Judenhetze in Deutschland.
Zu dieser Zeit lebte die als "dekadent" und "internationalistisch" verrufene Augspurg übrigens höchst bodenständig: Sie bewirtschaftete zusammen mit Heymann einen Bauernhof von 300 Hektar, mit Milchwirtschaft und Schlachtvieh, Obst- und Gemüseanbau, mit einer Verwalterin und vielen An-gestellten. All das neben der politischen Arbeit und den zahlreichen Reisen in Deutschland und Europa, für die Augspurg noch im Alter von 71 den Führerschein machte. Angefangen hatte es mit einem kleinen Haus im Isartal und einem Gärtchen, in dem die Vegetarierinnen sich ihr Gemüse selber zogen. Die Frauenrechtlerinnen waren Vegetarierinnen aus Tierliebe. Und sie setzten sich auch politisch für Tierschutz ein: bekämpften Stierkämpfe, Vivisektion und machten einmal sogar eine Aktion für Maulwürfe, als ihr bäuerlicher Landkreis die "Schädlinge" auszurotten versuchte. Das Landleben machte Augspurg auch wachsam gegen die Herstellung und den Verkauf von verfälschten Lebensmitteln. Die Juristin machte im Reichstag eine Eingabe wegen der schlechten Versorgung der Bevölkerung mit zu teurem Fleisch. Was den Abgeordneten Oldenburg zu der spöttischen Bemerkung hinriss, die "Fleischnot" des deutschen Volkes würde sich sicher bessern, wenn Anita Augspurg und Rosa Luxemburg am Kochtopf stünden, statt den Reichstag mit Eingaben zu belästigen. Augspurg und Luxemburg, die beiden bekanntesten Frauen ihrer Zeit - und die verschrieensten.
Auch Augspurgs bäuerliche Nachbarn blickten mit Misstrauen auf den Hof, wo ein Frauenpaar das Regiment führte. Zunächst versuchten sie, den beiden zwei Ehemänner aufs Auge zu drücken - als das nicht klappte, brannte der Hof. Zweimal in sechs Jahren. Bis die beiden wieder aufgaben und nach München zurückkehrten.
Dort warnte Augspurg gemeinsam mit ihren politischen Freundinnen aus aller Welt nun mit Aufrufen und Versammlungen vor der Kriegsgefahr. 1913 schrieb sie: "Friedensbewegung und Frauenstimmrecht - das eine Voraussetzung des Zieles der anderen! Erst wenn Frauen in den Parlamenten sitzen, werden die Summen gestrichen werden, welche die Bewaffnung der Völker unfruchtbar verschlingt. Erst wenn Frauen in den Parlamenten sitzen, werden die Regierungen zur Rechenschaft gezwungen werden über gewissenlose Kriegshetzte und verbrecherische Diplomatenränke." (siehe Seite 90)
Fast die gesamte Frauenbewegung wurde über Nacht patriotisch. Gertrud Bäumer begann am Tag der Mobilmachung, einen "nationalen Frauendienst" zu organisieren, "für vaterländische Aufgaben an der Heimat-front". Die kämpferischen Pazifistinnen Augspurg und Heymann waren plötzlich sehr einsam. Aber da waren immerhin die Briefe der Freundinnen aus dem, wie es nun hieß, "feindlichen Ausland". Die waren genauso entsetzt über die Kriegsbegeisterung, genau so entschlossen, ein Zeichen für den Frieden zu setzen. Im Jahr 1915, mitten im Krieg und deutschem Siegesgeschrei, formulierten 2.000 Frauen unter dem Vorsitz von Anita Augspurg und Aletta Jacobs in Den Haag Forderungen für einen dauernden Frieden: keine Annexionen, demokratische Kontrolle von Rüstung und Waffenhandel, internationaler Schiedsspruch durch einen Völkerbund, Wahlrecht für Frauen, damit die in Zukunft über Krieg und Frieden mitentscheiden könnten. Das bayerische Kriegsministerium verbot Anita Augspurg sofort jegliche Publikation, jeden Briefverkehr mit dem Ausland, jede "Werbetätigkeit für pazifistische Bestrebungen".
Irgendwann war der Wahnsinn zuende.
Das Kriegsende 1918 brachte vieles, was die Frauen gefordert hatten: Demokratie, Menschenrechte, Völkerbund. Und vor allem: das Frauen-Wahlrecht. Für ein paar kurze glückliche Monate arbeitete Augspurg in der Bayerischen Räte-Republik mit, als Mitglied im "provisorischen Nationalrat", machte sich mit Eifer daran, all das, wofür sie immer gestritten hatte, in bindende Gesetze umzusetzen. Doch bei der ersten Landtagswahl fiel Augspurg durch. Die Kirche hatte in ihrem ländlichen Wahlkreis von der Kanzel runter vor den Radikalen gewarnt. Und ein Hetzplakat der "Deutschnationalen" zeigte unter der Überschrift "Eure jetzigen Führer" antisemitisch verzerrte Karikaturen von Rathe-nau, Dernburg, Kautsky und anderen - mitten drin als einzige Frauen Zetkin und Augspurg. International, links, feministisch, jüdisch. Die Menschen wurden zahlreicher, die das für Schimpfworte hielten. Und die nicht nur mit Worten hetzten.
Anita Augspurg ließ sich nicht beirren und machte weiter internationale Politk. Mit dem im Krieg gegründeten "Internationalen Frauenausschuss für Frieden und Freiheit" (IFFF). Mit ihren feministischen Freundinnen in aller Welt versuchte sie, sich einer Entwicklung entgegenzustemmen, die Gewalt vor Völkerfreundschaft und Militär vor Demokratie setzte. Mit der Lebensgefährtin Lida war sie viel unterwegs in den 20er Jahren, auf Treffen der IFFF in aller Welt, und auf Entdeckungs- und Politik-Reisen nach Ägypten, Palästina, Algerien, Irland oder Skandinavien, in den Osten und in den Süden. In ihrer Zeitung "Frau im Staat" schrieben sie unerschüttert gegen Kolonialismus, gegen die Unterdrückung von Indianern und Schwarzen im demokratischen Amerika und für Gandhis gewaltlosen Widerstand. Und schon damals verurteilten Augspurg und Heymann den Schleierzwang in islamischen Ländern.
Ihr heimatliches München war inzwi-schen die Hauptstadt der Nazis geworden. Immer öfter erschienen nun auf Veranstal-tungen der IFFF grölende Störtrupps, schrien die Rednerinnen nieder, drohten mit
Schlagstöcken aus Gummi oder Stahl. Hass-ten alles, was feministisch, pazifistisch, sozialistisch oder "jüdisch" war. 1923 drosch ein Nazitrupp auf einem Frauentreffen los, ein Zuhörer wurde verletzt, die Versammlung löste sich auf. Kurz darauf wurden Augspurg und Heymann, zusammen mit Ellen Ammann vom katholischen Frauenverein, beim bayerischen Innenminister vorstellig: Die Frauen forderten die Ausweisung des Österreichers Adolf Hitler aus Bayern.
Ausweisen? 1915 hatte das bayerische Kriegsministerium die Hamburger Staats-bürgerin Lida Gustava Heymann wegen pazifistischer Umtriebe ausgewiesen. Mit der Folge, dass sie bis Kriegsende in München oder im Isartal versteckt leben musste. Aber Hitler? Aus dem Bruderland Österreich? Ein Patriot, sozusagen. Da wollte der bayerische Innenminister lieber nichts unternehmen....
Hitler blieb - und 1933 mussten Augs-purg und Heymann gehen. Am 30. Januar, dem Tag der Machtübernahme, waren sie zufällig auf Mallorca und kehrten nie nach Deutschland zurück. Denn Augspurg und Heymann standen seit 1923 auf der Liste der Menschen, die die Nazis als erste beseitigen wollten. Ihre Wohnung wurde vandalisiert, ihre Bücher verbrannt, ihr Besitz enteignet. Das Archiv der Frauenbewegung, das die beiden aufgebaut hatten, ist bis heute nicht wieder aufgetaucht.
Im Exil in Zürich wurden die Flüchtlin-ge von den Mitstreiterinnen der IFFF liebe-voll aufgenommen und unterstützt. Die einst so Privilegierten waren von einem Tag auf den anderen völlig mittellos. Es war nun ein trauriges Leben in Zürich, wo die junge Anita Augspurg einst so vergnügt und hoffnungsvoll gewesen war. Politisch kaltgestellt, hilflos, von der Unterstützung der Freundinnen abhängig. Anita war inzwischen weit über achtzig, häufig krank, mit schwachen Knochen und einem löcherigen Gedächtnis.
Lida, die elf Jahre jüngere Gefährtin, starb 1943 überraschend, ein halbes Jahr vor ihr. Zu einer Zeit, als die Nazihorden noch an der Macht waren, als in Europa ein Krieg tobte und die KZ-Krematorien rauchten. Alles, wofür Augspurg ein Leben lang gekämpft hatte, schien für immer verloren. Wie schade, dass sie nicht voraussehen konnte, wie lebendig ihre Gedanken viele Jahrzehnte später wieder werden würden.
ANNA DÜNNEBIER/URSULA SCHEU
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